Tote Seelen als Wahlhelfer der Kandidaten

Mindestens eine Million Stimmen brauchen Bewerber für die Registrierung bei den russischen Präsidentschaftswahlen. Die Jagd nach Unterschriften macht erfinderisch. Es wird bestochen, erpreßt oder einfach nur gefälscht  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Mit einer Flotille von Straßenkreuzern, jovial winkend, erschien am vergangenen Mittwoch in Moskau der Pharma-Unternehmer Vladimir Brynzalow vor den Toren des Obersten Gerichtshofes der Russischen Föderation. Wenige Stunden zuvor hatte er hier einen Erfolg errungen. Seiner Klage gegen die Zentrale Wahlkommission war stattgegeben worden.

Brynzalow will sich am 16. Juni den WählerInnen für das Amt des russischen Präsidenten empfehlen, wie 78 andere Prätendenten auch. Bei den meisten von ihnen dürfte dieser Tage der Adrenalinspiegel steigen. Jeder einzelne muß bis zum 16. April um achtzehn Uhr der Kommission mindestens eine Million Unterschriften von BürgerInnen vorlegen, die seine Kandidatur unterstützen.

Um die zusammenzukratzen, erwecken manche Präsidentschaftsbewerber sogar tote Seelen wieder zum Leben. Und mancher lebende Zeitgenosse streicht für solche Liebesdienste ein hübsches Taschengeld ein, denn jeder Wähler darf dem Gesetz nach mehrere Kandidaturen unterstützen.

Was nun Brynzalow betrifft, so wird die Zentrale Wahlkommission gegen den Beschluß des Obersten Gerichtshofes Einspruch einlegen, weil sie einen allzu großen Anteil der für ihn abgegebenen Autogramme für gefälscht hält. Angestellte des Brynzalowschen Pharma-Konzernes beschwerten sich überdies. Um ihren Job nicht zu riskieren, müßten sie nicht nur die eigene Unterschrift für ihren Chef abliefern, sondern möglichst auch noch die ihrer Ehepartner, Vereinsbrüder und Erbtanten. Solche Praktiken sind im Vorwahl-Rußland gewiß verbreitet, aber schwer nachzuweisen.

Nicht verstummen wollen jedoch Berichte, denenzufolge von EisenbahnerInnen und Postangestellten Unterschriften zugunsten Boris Jelzins erpresst wurden. Angesichts der Lawine von Solidaritätserklärungen für eine erneute Kandidatur des heutigen Präsidenten könnte es seine Kandidatur aber kaum behindern, wenn sich darunter auch solche Fälle nachweisen ließen.

Das größte Problem für die Zentrale Wahlkommission stellt die zunehmende Professionalisierung und Computerisierung der Fälscher-Kartelle dar. Aus den Registern von Meldeämtern, Versicherungen und Militärkommandanturen „besorgen“ sie sich die nötigen Geburtsdaten und Paßnummern der dort registrierten BürgerInnen.

Im Unterschied zu den USA, wo in vielen Staaten das Sammeln von Unterschriften auch eine politische Rolle spielt, verfügen die HüterInnen des Wahlrechts in Moskau über keine Unterschriften-Datenbänke oder hochsensible technische Hilfsmittel.

Nach dem Motto „Holzauge sei wachsam“, stürzt sich hier ein gutes Dutzend Graphologen mit Lupen bewaffnet auf die Millonen von Unterschriften und folgt dabei weitgehend der eigenen Intuition. Einer der Spezialisten kann sogar an jedem Namenszug das wahre Alter dessen ablesen, der in hingekritzelt hat. Echt ist diesem Graphologen zufolge zum Beispiel die Unterschrift des Methusalems unter allen Wählern der Russischen Föderation, eines 1884 geborenen Einwohners der Republik Dagestan. Mit zitternder Hand gab er sein Autogramm für Gennadi Sjuganow hin.

Für StudentInnen hat sich das Unterschriftensammeln von Tür zu Tür zu einem beliebten Zubrot entwickelt. Zuoberst auf einem Stapel von Papierbogen wird dabei geschickt der Name desjenigen Kandidaten plaziert, der bei den Angesprochenen am meisten Anklang findet. Dann erbittet man sich bei den Gutgläubigen gleich noch ein paar Unterschriftenduplikate auf den darunter hervorlugenden Bogen – „wegen der Bürokratie“. Und ohne es zu merken, haben die auf diese Weise Düpierten gleich eine ganze Handvoll von Präsidenten in spe ihre Unterstützung versichert.

Geschmälert wird das Einkommen der Händler mit Namenszügen allerdings durch das von kommunistischen RentnerInnen praktizierte Dumping. Sjuganows Graue-Panther-Connection hat ihm mit ihrem unverwüstlichen Idealismus auch beim Unterschriften-Hausieren den ersten Platz gesichert.

Ein Übersoll hat der Kommunisten-Führer schon abgeliefert. Er selbst, Präsident Jelzin, Vladimir Schirinowski und Ex-Päsident Gorbatschow wurden als erste vier bereits von der Zentralen Wahlkommission als Kandidaten bestätigt. Schirinowski wog die Unterschriften zu eigenen Gunsten gleich tonnenweise ab und ließ sie in einem mit Flugabwehrraketen bestückten Panzerwagen zur Wahlkommission karren. „Gegen Helikopterangriffe“, erklärte ein Pressesekretär der LDPR erstaunten Reportern: „Das Ergebnis unserer kostbaren Arbeit müssen wir in alle Himmelsrichtungen absichern“.

Ebenfalls in einem gepanzerten Fahrzeug lieferte der demokratische Kandidat Grigori Jawlinski seine papierene Ernte ab. Seine Registrierung durch die Kommission ist praktisch gesichert. Er habe schon vier Millionen Unterschriften zusammen, brummte derweil im Fernsehen der breitmäulige General Lebed. Die müsse man aber vor der Abgabe noch sieben, „denn da ist viel Ausschuß drunter“. Lebeds Wahlhelfer verfuhren ähnlich wie Tom Sawyer, dem die Nachbarsjungen bekanntlich Geld dafür bieten mußten, daß sie den Zaun seiner Tante streichen „durften“.

Anstatt, wie viele andere, Bares für die schriftliche Unterstützung ihres Kandidaten zu bieten, knöpften sie den gutgläubigen BürgerInnen bei dieser Gelegenheit auch noch eine „Gebühr“ dafür ab, daß Lebed später deren Interessen vertreten werde. Dank dieser Glanzleistung müßte man in dem bärbeißigen Kommißstiefel nicht nur das größte politische, sondern auch finanzielle Genie des modernen Rußland vermuten, wenn...ja wenn man nur sichergehen könnte, daß der General selbst auch von der Aktion informiert war.