Das Portrait
: Ein munterer Alter

■ Wolfgang Leonhard

Wolfgang Leonhard wird 75

Foto: Holger André

Seit Herr von Felinau nicht mehr die Geschichte seiner Rettung von der Titanic erzählen kann, gibt es keinen Menschen in Deutschland, der sein Publikum derart zu fesseln wüßte wie Wolfgang Leonhard. Erst kürzlich verschlug es einer überwiegend aus der PDS rekrutierten Zuhörerschaft in Berlin den Atem, als der rüstige Alte seine Version des Zwangsvereinigungskrimis SPD/ KPD zum Besten gab. Unglaublich: Leonhard wird heute 75.

Rund 20 Jahre, vom Eintritt in die „Jungen Pioniere“ der KPD bis zu seiner kurzzeitigen Karriere als Journalist beim – titoistischen – Belgrader Rundfunk, war Leonhard organisierter Kommunist. Die folgenden 45 Jahre verbrachte er, Buch um Buch auf den Markt werfend, in Harvard und zahlreichen anderen Hochschulen lehrend, nimmermüde Vorträge haltend, mit der Analyse der Sowjetunion und des kommunistischen Weltsystems. Er blieb ein linker Demokrat, der die Hoffung auf einen friedlichen Systemwandel des sowjetischen Imperiums nie aufgegeben hat. Als ob er am Katzentisch sitzend die Beratungen des Sekretariats des ZK der KPdSU verfolgte, sprudelten Namen, Daten, Verbindungen aus ihm heraus, darunter auch – sehr früh – der Name von Sergej Michailowitsch Gorbatschow.

Bleibende Bedeutung hat vor allem sein autobiographisches Werk „Die Revolution entläßt ihre Kinder“, erstmals in den 50er Jahren erschienen und seither das Einführungsbuch, um Glanz und Elend der kommunistischen Idee zu verstehen. Leonhard durchlebte den Stalinschen Terror in der Sowjetunion; seine Mutter verbrachte viele Jahre im Gulag. Er gehörte zur neunköpfigen Ulbricht- Gruppe, die von Moskau nach Berlin eingeflogen wurde, um die Kontrolle erst über die KPD und dann über Deutschland zu übernehmen, war Agitpropper der Partei, begeisterte sich für den „deutschen Weg zum Sozialismus“, brach mit dem SED-Regime nach der Exkommunizierung Titos und gab schließlich, nach einem vergeblichen Versuch, in der Bundesrepublik eine linkssozialistische Gruppierung mit dem Programm des Selbstverwaltungssozialismus zu begründen, die praktische Arbeit am Projekt sozialistische Revolution auf.

Wir wünschen Wolfgang Leonhard, dem eminenten Zeitzeugen, Analytiker und Unterhaltungskünstler, daß er so alt werde und so putzmunter bleibe wie manche der kasachischen Bauern, die er in seiner Jugend traf. Christian Semler