Wahnsinn und Psychosen

■ Die Geschichten handeln von Serienmördern, Schweinehunden und Wesen, die ständig ihr Geschlecht ändern. Rene Martens stellt seine Comic-Favoriten vor

Jeder sollte mal Fan von Batman, Spiderman oder den X-Men gewesen sein. Denn Superhelden- Comics sind zumindest für Jungs ein wichtiger Faktor in der popkulturellen Sozialisation. Solche Geschichten haben allerdings den entscheidenden Nachteil, daß sie mit dem sogenannten wahren Leben nicht viel zu tun haben. Deshalb entwickelte sich im Laufe der 80er Jahre in den USA eine Gegenbewegung: Immer mehr Independent-Zeichner begannen, in Schwarzweißheften Stories aus ihrem Alltag zu erzählen – oft mit einer ironischen Distanz zu sich und ihrem persönlichen Umfeld.

Inspiriert von diesen Serien aus den USA und Kanada schreiben mittlerweile auch deutsche Comic- Autoren Geschichten, die jeder zwischen 20 und 35 hätte erleben können. Zwei exponierte Vertreter der hiesigen Szene sind Andreas Michalke und Minou Zaribaf, die ihre Reihe „Artige Zeiten“ im Berliner Kleinverlag Reprodukt veröffentlichen, wo auch der seit kurzem in der Hauptstadt lebende kanadische Underground-Star Julie Doucet veröffentlicht.

In der letzten Ausgabe der Serie bekommen wir Einblick in die vom Splatterfilm inspirierten Vernichtungsfantasien, die Minou Zaribaf überkommen, wenn sie mit ihrer Freundin in subkulturelle Kneipen geht, die von „Inzuchtssuppe“ geprägt sind. Und von Andreas Michalke lesen wir „Notizen aus dem Untergrund“, das heißt Berichte aus der HipHop- und Hardcore- Szene.

Der Höhepunkt der Heftes ist ein Kommentar zur spinnerten amerikanischen Agit-HipHop- Gruppe Consolidated: „Jede Revolution braucht solche Typen mit Muskeln und der richtigen Gesinnung, aber nicht als Unterhalter agitierend auf einer Bühne, sondern an der Front in der 1. Reihe als Kanonenfutter.“ So etwas ähnliches läßt sich auch über deutsche Autonome sagen – wenn man ihnen wohlgesonnen ist.

Schaut man sich die US-amerikanischen Underground-Veröffentlichungen der letzten Zeit an, läßt sich eine leichte Trendwende ausmachen: Im Mittelpunkt stehen nicht mehr jene Aspekte des sogenannten wahren Lebens, die sich mit leichter Hand erzählen lassen, sondern es geht um Traumata und Wahnsinn und Psychosen. Diese Comics klären uns über das auf, was wir schon immer über unsere dunklen Seiten wissen wollten.

„Ich habe das schreckliche Gefühl ... Wenn wir noch tiefer in diesen Wahnsinn eindringen, werden wir wohl eine religiöse Erfahrung machen. Und ich habe mir mal geschworen, niemals eine zu haben“, sagt Kathy, eine der Hauptfiguren in „Shade“, dem zur Zeit besten Comic. Diese Aussage skizziert auf amüsante Weise das Gefühl, das einen manchmal beim Lesen solch mehr oder weniger psychoanalytischer Geschichten überkommt.

„Shade“, geschrieben vom neuen Star-Autoren Peter Milligan, hat für Comic-Verhältnisse einen gewöhnlichen Helden: einen Außerirdischen. Er kann die Gestalt jedes Menschen annehmen, auch die von Toten, und er kann sich darüber hinaus in Gegenstände verwandeln. Allerdings gelingt es ihm kaum einmal, seine Mutationen zu kontrollieren.

Zu Beginn von „Der Tag der Hinrichtung“, dem ersten auf deutsch erschienenen „Shade“- Band, übernimmt der Titelheld die körperliche Hülle des Serienmörders Troy Grenzer, während dieser auf dem elektrischen Stuhl in Louisiana hingerichtet wird. Shade ist angetreten, um auf der Erde „Wahnsinn mit Wahnsinn zu bekämpfen“.

Der Plot von „Shade“, in Chris Bachalos spielerisch-experimentellem Layout kongenial umgesetzt, besteht zu einem großen Teil aus Träumen, er verlangt dem Leser einiges ab. Milligans größte Leistung ist es, seine Geschichte im Rahmen eines Fantasy-Comics zu erzählen. „Shade“ versucht nicht, wie so viele mißlungene Werke dieses Genres, uns in eine fremde Welt zu entführen. Er spielt in unserer Welt, und er kann sie uns sogar erklären.

Im Vergleich zu Milligans Geschichten wirkt „Frank“ von Jim Woodring richtig niedlich. Doch nur auf den ersten Blick! Woodring entwickelt seine Geschichten um Frank, den guten Kater, und Schweinehund, seinen weniger guten Widersacher, aus Träumen und Halluzinationen. Sie spielen in einer Märchenwelt, aber sie wecken Erinnerungen an subtile Horrorfilme und an Alpträume aus der Kindheit.

Im Schaffen Woodrings gab es eine entscheidende Wende, nachdem ihm einige seiner Fans auf immer eigenwilligere Weise ihre Ehrerbietung gezeigt hatten: Sie schickten ihm Fotos von abgetrennten Armen, kaputte Mikroskope oder mit Haaren vollgestopfte Flaschen. Weil der ehemalige Müllmann irgendwann mehr über dieses Menschen erfahren wollte, forderte er sie auf, ihm ihre Paßfotos zu schicken, um „Abbilder ihrer Seelen“ zu zeichnen. Diese sogenannten Jivas sind inzwischen zu einem Markenzeichen Woodrings geworden.

Wer einen flüchtigen Blick auf die Titelfigur von „Ranma 1/2“ wirft, könnte meinen, diese Geschichte stamme von einem Underground-Künstler. Denn der Kampfsportler Ranma ist ein Wesen, das ständig sein Geschlecht wechselt: Kommt es mit warmem Wasser in Berührung, wird es zum Jungen, kaltes dagegen macht es zum Mädchen.

Versteht sich dieser Comic etwa als durchgeknallter Beitrag zum dekonstruktivistischen Diskurs über die Geschlechter? Haben der Psychoanalytiker Slavoj Žižek und die feministische Theoretikerin Judith Butler sich ihn am Telefon ausgedacht?

Nein, „Ranma 1/2“ ist eine Teenagerkomödie aus Japan, gezeichnet und geschrieben von Rumiko Takahashi, einer der populärsten Comic-Künstlerinnen des Landes und mittlerweile mehrfache Millionärin.

Wer subtilen, aber bodenständigen Humor bevorzugt, der dürfte dagegen gut bedient sein mit dem neuen Band des Zeichners Kamagurka, der in Deutschland vor allem aufgrund seiner Arbeit für Titanic bekannt ist. Okay, „Schreibstau“ ist kein Comic, sondern eine Sammlung von Cartoons, aber da der 40jährige sonst auch Comics zeichnet, ist er in diesem Artikel durchaus gut aufgehoben.

Der Belgier widmet sich hier einem Problem, das jeden Schriftsteller und Journalisten wenigstens einmal angeweht und manche auch umgeworfen hat. In 100 amüsanten, manchmal auch angenehm hämischen Zeichnungen zeigt er, daß Schreibblockaden nur Neurotiker plagen, die keine wirklichen Probleme haben. Wie läßt Kamagurka doch so schön einen Mann zu seinem Freund sagen: „Immer mit der Ruhe, Emil, es ist nur ein Buch!“

Chris Bachalo, Mark Pennington (Zeichnungen), Peter Milligan (Text): Shade – Band 1: Der Tag der Hinrichtung, Edition Comic Speedline, 29,80 DM.

Jim Woodring: Frank (bisher zwei Nummern), Jochen Enterprises, 9,95 DM; der Zeichner stellt noch bis zum 4. Mai in der Berliner Galerie Grober Unfug aus (Zossener Straße 32-33).

Rumiko Takahashi: Ranma 1/2 (erscheint zweimonatlich in dem Sammelband „Manga Power“), Ehapa Verlag, 9,90 DM.

Kamagurka: Schreibstau, Edition Moderne, 14 DM.

Andreas Michalke/Minou Zaribaf: Artige Zeiten (bisher fünf Nummern, die sechste erscheint im Juni), Reprodukt, 8 DM.