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Identätärä auf allen Kanälen

Macht von Frauen entsteht da, wo sie gemeinsam handeln – nicht dort, wo sie etwas Bestimmtes sein wollen. Warum ist Frausein bloß so wichtig?  ■ Von Claudia Koppert

Auf den ersten Blick scheint es eine klare Sache zu sein: Gruppen, die über gemeinsame Identitäten – wir Frauen, wir Lesben, wir Schwarzen – zusammengehalten werden, sind eine starke politische Kraft. „Grenzenlos mächtig“ hieß kürzlich ein Kongreß von und für schwarze Frauen, im Exil lebende Frauen, Migrantinnen und Jüdinnen – will sagen, grenzenlos mächtig ist ihr Bündnis beziehungsweise kann es sein. Das ist das eine.

Andererseits kann ein kollektives „Wir“ den Zusammenschluß auch hintertreiben, wie das in den westlichen Frauenbefreiungsbewegungen der Fall war und ist: Dieses Wir reklamierte die Gemeinschaft aller Frauen als Schwestern, repräsentierte aber faktisch vor allem Frauen der weißen Mittelschichten, propagierte die „Befreiung“ aller und produzierte nach innen Ausschluß, neue Konformitäts- und Identitätszwänge Im hier herrschenden feministischen Diskurs wird Identität heute als solche in Zweifel gezogen und jede Politik, die auf Identität Bezug nimmt, attackiert. Die kollektiven „Wirs“ und ihre Grundlage – die Frau, die Lesbe – sind in Verruf gekommen.

Angesichts solch widersprüchlicher politischer Erfahrungen und theoretischer Einsichten stellen sich Fragen: Warum dreht sich heute soviel um Identität? Frau lese nur einmal die Zeitung unter diesen Gesichtspunkt: Die städtischen Kunstsammlungen in Chemnitz haben ihre „Identität radikal geändert“, in ihrer neugeordneten Abteilung „Kunst nach 1945“ kommen ostdeutsche Künstler nicht mehr vor, von Künstlerinnen offenbar ganz zu schweigen. Männer suchen nach einer „neuen männlichen Identität“, indem sie auf Frauenstellen Gender Studies betreiben. Computertravestie imaginiert schon mal die „freie Wahl der Geschlechtsidentität“. Die SPD steckt ohnehin in einer Identitätskrise. Mit Hoffesten und Feldbegehungen lösen niederbayrische Biobauern die „ländliche Identitätskrise“. Die Redaktion von der Sadomaso-Depesche nennt Sadomasochismus in der taz eine „ganz persönliche sexuelle Identität“. Keine Identitätsprobleme hat zwar Papst Johannes Paul II., aber sein päpstlicher Intellektuellenzirkel debattierte im Sommer 94 über „Identität im Wandel“ – „Identätärä“ auf allen Kanälen.

Politisch identitätsbewußte Gruppen wenden sich nicht ausschließlich gegen ihre eigene Unterdrückung, sondern gegen das Beherrschungsprinzip überhaupt: nämlich gegen das Prinzip, Unterschiede wie Hautfarbe oder Geschlecht zu ideologisieren, um Über- und Unterordnung zu begründen. Ein solcher Begriff von Identität grenzt nicht in erster Linie ein oder aus, sondern ist auf eine bestimmte Politik mit Unterschieden gemünzt – darauf, daß Unterschiede die Grundlage für Diskriminierung abgeben.

In der Praxis sieht politisches Identitätsbewußtsein bei Zusammenschlüssen zum Beispiel von Immigrantinnen so aus, daß sie nicht nach einer ethnischen Identität suchen, sondern gegen die Identitätszuweisungen an sie als „Ausländerin“, Fremde“, als „Türkin“ angehen. Für lesbische Frauen hieße politisches Identitätsbewußtsein, den ursprüngichen Impetus beizubehalten: gegen die Diskriminierung ihrer sexuellen Orientierung, den Zwang zur Heterosexualität, gegen die Identifizierung als Andersartige. Bei vielen politisch-sozialen Bewegungen haben sich die Gewichte verlagert, Identität – eine ethnische, geschlechtliche, sexuelle oder nationale – wird vom provisorischen und zeitweiligen Hilfsmittel zum Erstrebten, wird zum Lot, zum Notanker. Politisches Identitätsbewußtsein (Kappeler) mutiert zur Identitätspolitik, einer Politik mit einer Identität und für eine Identität.

Westliche Frauen erklärten sich zwar zunächst zu den genuinen Interessenvertreterinnen ihres Geschlechts. Ziel war die Befreiung aller Frauen, mithin aller Menschen, von Ausbeutung und Unterdrückung. Die Demontage der weiblichen Identität war von Anfang an ein wesentliches Element feministischer Politik, Ausdruck des politischen Identitätsbewußtseins vieler Aktivistinnen. Eine neue Identität als Frau galt als ein Mittel und Produkt des Befreiungsprozesses.

Allerdings: Überall versagten Frauen ihren selbsternannten Interessenvertreterinnen die Gefolgschaft, und besonders schwarze Frauen wehrten sich gegen den Avantgarde- und Dominanzanspruch weißer, oft der Mittelschicht angehörender Feministinnen. Damit gerieten nicht nur die Machtverhältnisse zwischen Frauen, ihre Integration in sämtliche hierarchische Ordnungen in den Blick, sondern auch ihre unterschiedlichen Interessenlagen. Frauen sind keine Klasse und auch nicht einfach eine diskriminierte „Minderheit“. Sie nehmen im Gefüge von Dominanz und Diskriminierung unterschiedliche Orte ein und agieren daher von unterschiedlichen Orten aus. So kämpfen Angehörige diskriminierter Gruppen für eine medizinische Grundversorgung und wenden sich gegen Zwangssterilisierung, Frauen der herrschenden Schichten demgegenüber gegen Abtreibungsverbote und medizinische Übertechnisierung.

Aber auch bei gleicher Ausgangslage unterscheidet sich die Stoßrichtung: Die einen träumen von der Befreiung von der Reproduktion, die anderen von der Befreiung zur Reproduktion, die nächsten streiten für die Vereinbarkeit von Muttersein und freiem Menschsein. Die einen träumen von Cyborgs, erhoffen sich Fortschritt durch Hochtechnologien und den Internet-Anschluß, die anderen durch die Stärkung der Subsistenzproduktion. Ein stabiles kollektives „Wir“ aller engagierten Frauen hat keine Grundlage.

Ein nicht herbeigeredetes Wir verlangt dagegen übergeordnete gemeinsame Ziele; Ziele, in denen die Beteiligten ihre Erfahrungen von Mißachtung und Not aufgehoben sehen. Keine Frage, es ist ein Gewinn, daß kaum mehr über die eine feministische Zentralperspektive gestritten wird, den Ansatz, dieStrategie. Aber wenn zwischen den unterschiedlichen Ansätzen und ihren Vertreterinnen, zwischen Theorie und Praxis keine Brücken mehr zu schlagen sind oder überhaupt zu schlagen versucht werden, verpufft erhebliche Wirkungskraft. Feministische Ziele verlangen Widerstand. Widerständige Energien laden sich nicht beliebig oft durch den Anblick einer ungeliebten Realität auf, sondern entscheidend auch im Zusammenwirken mit anderen, in der Anerkennung und Kritik, die hier zu finden ist. Fehlt es daran, fühlen sich Frauen, ständig überanstrengt, verlieren den Blick für das, was wirklich wichtig ist.

„Macht“, schreibt Hannah Arendt, entsteht überall da, wo „Menschen zusammen handeln“, und zwar „zusammengehalten durch die bindende Kraft gegenseitiger Versprechen“, das heißt durch etwas in die Zukunft Gerichtetes, bisher nicht Verwirklichtes, eben Ziele. Tritt an die Stelle dieser „Versprechen“ der Anspruch, etwas Bestimmtes sein zu wollen, verliert der Zusammenschluß die Grundlage seiner Macht. Gemeinsam etwas sein zu wollen ist kein wirkungsvolles politisches Projekt von Nichtherrschenden. Zu gewinnen ist auf diesem Weg nur die Anerkennung, daß ich etwas bin oder nicht bin oder daß wir viele sind. Ein bescheidenes Anliegen, zumal ohne wirkliches Zusammenwirken kollektive Hoffnungen und Beschwörungen nicht verhindern, daß sich Enttäuschung, Zerwürfnis, neuerliche Ohnmacht einstellen.

Es bleibt die Frage: Warum heften sich dennoch Befreiungswünsche in westlichen Gesellschaften bei vielen so leidenschaftlich an eine positive, selbstbestimmte individuelle und kollektive Identität? Warum wird deren Anerkennung und Würdigung so dringend gesucht? Das Identitätsproblem ist eine Begleiterscheinung moderner Herrschaftsverhältnisse. Nachdem sich traditionelle Formen von Halt und Zugehörigkeit aufgelöst haben, will eine Identität anerkannt und gewürdigt werden.

Jede Nichtanerkennung wird heute als persönliche Verletzung empfunden. So wird Identität für viele zum wunden Punkt: einerseits als Herrschaftsmittel enttarnt und fragwürdig geworden, andererseits als existentiell notwendig empfunden, um handlungsfähig zu bleiben und sich immer wieder aufs neue integrieren zu können. Kollektive Identitäten versprechen in dieser Lage Halt, Geborgenheit, selbstverständliches Dazugehören. Politischer Widerstand und persönliche Identitätssuche verbinden sich zu Identitätspolitik, zur Suche nach einer widerständigen Identität.

Was heißt all dies für soziale Bewegungen, in diesem Fall die Politik von Frauen heute?

In einem Bericht von Karin Gabbert über die Zugfahrt von 150 Frauen von Paris nach Peking zur Weltfrauenkonferenz ist die Ungleichzeitigkeit der Geschehen eingefangen: Die Strecke führt durch mehrere Zeitzonen. Immer wieder stellt sich den Reisenden die Frage: Wieviel Uhr ist es? „Manche leben nach Moskauer Zeit, andere stellten die Uhren ständig vor. Einmal feiern einige Frauen ein Fest, tanzen die Nacht durch bis zum Halt auf irgendeinemd sibirischen Bahnhof. Für andere ist es gerade Morgen, sie stolpern in Schlafanzügen aus ihren Abteilen. Draußen ist Mittag.“

Hinzu kommt die Ungleichheit der Ziele, nicht nur für Peking: „Einige Frauen, wie die alte Fischersfrau von der Mittelmeerküste, wollen ihr Projekt vorstellen, andere Frauen aus aller Welt kennenlernen, einige wollen um das Abschlußdokument der Regierungen streiten, andere kennen es überhaupt nicht, und die dritten finden es überflüssig.“

Konsens ließe sich wahrscheinlich nur in einem Punkt herstellen, daß es nämlich keine Übereinstimmung von vornherein gibt, und paradoxerweise hätten wohl gerade auf dieser Basis einzelne Projekte eine Chance; nicht aber der Rückbezug auf ein gemeinsames Frausein in der Hoffnung, gemeinsame Ziele würden sich automatisch ergeben. Dennoch muß es feministischer Politik möglich sein, nach außen als und für Frauen zu sprechen, obwohl das nach innen in den Frauenbewegungen immer Debatten darüber in Gang setzt, wer damit auf welche Weise ein- beziehungsweise ausgeschlossen wird.

Der Haken bei der Sache ist: Das dafür erforderliche politische Identitätsbewußtsein müßte sich über Unterschiede hinweg bilden, die durchaus nicht gleichberechtigt und vereinbar nebeneinander bestehen. Da ist eben die Frau eines Fischers, die nach Peking reist, um ihr Projekt „Pensionen für Fischersfrauen“ vorzustellen. Die gleiche Reise unternehmen auch Lesben, die während der Fahrt ihr Motto für die Weltfrauenkonferenz entwerfen und auf T-Shirts sprühen: „Lesbians Straight to Beijing“.

Der Kampf der Fischersfrauen folgt der herkömmlichen Logik sozialer Bewegungen: Betroffen von finanzieller Abhängigkeit vom Ehemann, wirtschaftlich ausgebeutet, bedroht von Armut im Alter, tun sich Frauen zusammen, formulieren Ziele, in die ihre Situation eingeht, suchen Verbündete und Foren, um ihre Forderungen vorzubringen. Die Verbindung zum Kampf anderer, die finanziell abhängig sind und deren Arbeit nicht gewürdigt wird, ist unschwer herzustellen. Identität ist kein Thema dieser Frauen, auch wenn sie ein politisches Identitätsbewußtsein ausbilden.

Anders liegen die Dinge bei den Lesben. Sie verlangen, daß sich Frauen offen zu ihrem Lesbischsein bekennen und daß Lesben gesellschaftlich anerkannt werden. Die Forderung nach Anerkennung und Schutz einer diskriminierten Identität entspringt einer volkommen anderen „Not“ als die der Fischersfrauen.

Ungezwungenes Selbstbewußtsein und Selbstachtung setzen nicht nur voraus, daß rechtliche Verbote und Verfolgung fehlen, sondern verlangen auch die Erfahrung von rechtlichem Schutz und gesellschaftlicher Solidarität (Honneth). Deshalb suchen viele die gesellschaftliche Anerkennung einer diskriminierten Identität als Ersatz für Befreiung (Bourne): „wir Frauen“, „wir Lesben“.

Eine solche Politik mit einer und für eine Identität führt in der Regel zum Rückzug, zur Spaltung, zur Aufgabe der „Befreiung aller“. Aber das muß nicht sein: Diese Perspektive öffnet sich erneut, wenn Frauen sich entscheiden – und es ist eine Frage der Entscheidung – , die eigene Erfahrung von Mißachtung und die Ausbeutung anderer im System von Herrschaft einzuordnen.

Diese relativierende Rückbindung verwandelt die Identitätssuche; statt Fluchtpunkt ist sie nun ein Ansatzpunkt. Erst sie ermöglicht eine politische Zusammenarbeit über ungleiche Lagen hinweg, und erst sie gibt wieder die Sicht frei auf ein Selbstverständnis jenseit von Identitäten: Wir sind, was wir tun, und wir verändern uns, indem wir handeln.

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