piwik no script img

Sind so viele Bürgermeisterfragen

■ SPD-Parteitaktiker vor Parteitag verzweifelt: Sowohl Regierungsmehrheit als auch alle Reformen gefährdet, während Voscherau in visionären Sphären schwebt Von Silke Mertins

Bürgermeister Henning Voscherau ist mit seiner Trotzphase noch lange nicht durch. Inzwischen erklärte er nicht nur die Bezirksverwaltungsreform, sondern auch die Wahlrechtsänderung zur Bürgermeisterfrage: Das vom Kooperationspartner als Essential formulierte Zwei-Stimmen-Wahlrecht sei für ihn kein Verhandlungsgegenstand. Statt-Partei-Chef Achim Reichert hatte in einem Brief an die SPD unmißverständlich zu verstehen gegeben, an welchen Punkten die Regierungszusammenarbeit auf dem Spiel steht. Ganz oben auf der Liste steht die Einführung des Zwei-Stimmen-Wahlrechts – eine Stimme für einen Direktkandidaten und eine für die Parteiliste. Die SPD will Wahlkreise mit nur einer Stimme.

In der Fraktionssitzung am späten Mittwoch abend schlug die Stimmung dafür, die Wahlkreise notfalls auch ohne die CDU einzuführen, um. Zu der erforderlichen Zweidrittelmehrheit würden die Stimmen von SPD, GAL und Statt reichen. Ohne die größte Oppositionspartei aber wollen die Sozialdemokraten nicht die Verfassung ändern. Lange, und zum Teil kontrovers wurde in der Fraktionssitzung debattiert, ob man mit der CDU über eine Verschiebung der ganzen Verfassungsreform diskutieren oder einzelne Reformpunkte vorab verabschieden sollte. Diskussionsgrundlage war ein Brief des CDU-Chefs Ole von Beust, der vorschlug, den Verfassungsartikel 50 aus dem Reformpaket herauszunehmen und vorab zu verabschieden. Artikel 50 räumt dem Senat ein Vetorecht bei von der Bürgerschaft beschlossenen Gesetzen ein. Im Gegenzug könnte die SPD der CDU abringen, den Artikel 13, der die Ehrenamtlichkeit der ParlamentarierInnen garantiert, zu ändern.

Doch ist das taktisch geschickt? fragte sich die SPD. Würde man Artikel 13 zuerst verabschieden, sähe es in der Öffentlichkeit so aus, als kümmere sich das Parlament wieder einmal zuerst um die Versorgung der Abgeordneten. Gleichzeitig gibt es auch Gegner in den eigenen Reihen, die das Feierabendparlament beibehalten wollen. Wieviele SPD-Abweichler würde es bei der Abstimmung geben?

Am Mittwoch beschloß die SPD-Fraktion mit Mehrheit, mit der CDU zu verhandeln. Eine Arbeitsgruppe muß nun die Strategie ausarbeiten, um zu verhindern, daß die SPD mit der CDU stimmt, die CDU sich danach aber verweigert. Und die Zeit drängt, denn am kommenden Dienstag muß der Verfassungsausschuß eine Entscheidung treffen, wenn die Gesetze bis zum Sommer durch die Bürgerschaft gepeitscht werden sollen. Klappt das nicht, wird es in dieser Legislaturperiode wohl nichts mehr werden.

Ob die gesamte Reform eine Einheit bleibt oder häppchenweise durchgebracht wird, hängt letztlich auch von der Statt Partei ab. Die aber macht eine Verhandlung von der Entscheidung des Bürgermeisters zur Bezirksverwaltungsreform abhängig – die derzeitige Regierungsfrage.

Voscherau ließ bereits durchsickern, daß er sich womöglich überhaupt nicht vor Dienstag entscheiden wird, wie er zu dem Kompromißpapier steht, das er heute von den Senatoren Thomas Mirow (SPD) und Wolfgang Hoffmann-Riem (parteilos) überreicht bekommt. Macht er seine Drohung wahr und läßt den heute beginnenden SPD-Parteitag mit den sozialdemokratischen Schicksalsfragen im Regen stehen, wird am kommenden Dienstag Chaos unvermeidlich sein.

Der Zeitplan sei schon etwas gedrängt, gibt auch SPD-Fraktionsgeschäftsführer Michael Näfken zu. Nach der Entscheidung am Dienstag vormittag im Senat müßte praktisch bis um 16.30 Uhr, wenn der Verfassungsausschuß tagt, ein mehrheitsfähiges Reformpaket geschnürt werden, über das abgestimmt werden kann. Bis dahin werden die Parteistrategen aller Fraktionen ihr eigenes Reformpäkchen zu tragen haben. Am schwersten wird es der SPD fallen: Sie muß sich um die Regierungsmehrheit, die eigenen Abweichler und den in höhere Sphären entschwebten Bürgermeister gleichzeitig sorgen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen