Weine, Rußland, weine

■ Am Bremer Theater: ein bewegender „Boris Godunow“ Neuinszenierung am Bremer Theater.

Als im letzten Bild das Volk dem neuen Usurpator Dimitrij – wie schon im ersten dem eben gekrönten Zar Boris – jubelnd nachläuft, steht der Gottesnarr in Modest Mussorgskis großem Volksdrama „Boris Godunow“ entsetzt und mit einer hilflosen Handbewegung da. Dann nimmt er die Flasche. Wie Mussorgski selbst kann er nur noch mit Wodka die Wirklichkeit ertragen, deren Chronist er das ganze Stück hindurch war. „Weine, armes Rußland, weine“ sind seine letzten Worte. Daß die nicht Spinnereien eines Narren sind, sondern die politisch-intellektuelle Einsicht des Komponisten, ist der konzeptionelle Ansatz des Regisseurs Martin Schüler, der jetzt Mussorgskis geniales Werk in einer gedanklich sauberen, soliden, wenn auch nicht durchgehend zündenden Inszenierung auf die Bremer Bühne brachte.

„Boris Godunow“ (nach Alexander Puschkin) spielt in der Zeit von 1598 bis 1603: Boris ist nach der Ermordung des rechtmäßigen Thronfolgers Dimitrij Zar geworden. Der Einmarsch des falschen Dimitrij in Moskau, der die Vorgeschichte kennt und mit Unterstützung der politisch ehrgeizigen Polin Marina Zar werden will, wird lanciert von den Jesuiten, die ihrerseits Interesse an der Rekatholisierung Rußlands haben.

Schüler und seiner Ausstatterin Gundula Martin geht es nicht um historisch korrekte Geschichtserzählung, sondern um grundsätzliche Interpretationen von Macht, Intrige und Volk. Sie erzählen die Geschichte zeitlos und erlauben sich die entsprechende „Unlogik“: Kostüme und Uniformen der letzten Jahrhundertwende, zugleich ein elektrisch geladener, von oben beleuchteter Stacheldraht an der litauischen Grenze und ein brokatgoldenes Zarengewand, Leitzordner in der Mönchszelle des Chronisten Pimen und eine lebensgroße Muttergottes-Ikone im Kinderzimmer der Zarenkinder - jedes für sich weist auf andere historische Kontexte und Konnotationen.

Dieses „Durcheinander“ entbindet den Regisseur davon, eine zeitgenössische Interpretation logisch zu gestalten, was offensichtlich nicht in seiner Absicht liegt. Ihm geht es um die psychologische und politische Genauigkeit und Entfaltung der Motivationen und Erlebnisse der Personen, um das dauernde Verhältnis zwischen Innen- und Außenwelt. Das zeigt sich, wenn beispielsweise durch die Erzählung des Pimen der Mönch Grigorij (später der falsche Dimitrij) die Idee bekommt, den Zaren zu stürzen, wenn der Zar durch Pimens Bericht, das Kind lebe noch, seine von Schiuskij geplante tödliche Herzattacke bekommt. Wenn der Jesuit Rangoni die Machtgier der Marina für seine Interessen nutzt, sie wie eine Produkt seiner Gehirnwäsche wirkt, dann sind das Beispiele von Schülers präziser Aushorchung der Psychologie an dramaturgischen Nahtstellen. Und immer wieder wird dem „musikalischen Volksdrama“ Rechnung getragen; Schüler hat keine Mühe gescheut, das geschundene Volk in seiner Ambivalenz zwischen Aufstand und Nachfolge des jeweils Mächtigen zu differenzieren. Nur schade, daß Schüler zwischendurch immer wieder auf regelrechte Klamotten nicht verzichten mag: Warum beispielsweise muß der verwirrte Boris im Nachthemd in die Bojarenversammlung stürzen? Warum müssen die Häscher derart mit den Gewehren fuchteln, daß die Wirkung eher lächerlich ist?

Die musikalische Seite der Aufführung ist beachtlich: Der Dirigent Ira Levin hält die 1959 entstandene Instrumentation von Dimitri Schostakowitsch nicht ganz zu Unrecht für den besseren Mussorgski, der ja mit seiner ersten Fassung ein Debakel erlitt. Levin bindet Orchesterfarben und –rhythmen aufregend in die dramaturgischen Verschachtelungen ein. Das gesangsschauspielerische Niveau ist beachtlich: Allen voran James Moellenhoff als Boris, der die seelische Innenansicht seines Aufstiegs und Verfalls höchst eindrucksvoll verdeutlichen kann. Graham Sanders als Grigorij muß sich im Polenbild arg anstrengen, Mihai Zamfir ist mit viel zu kleiner Stimme diesmal der Bösewicht Schiuskij. Herbert Eckhoff als Pimen macht mustergültig vor, wie man jedes Wort verstehen kann. Überzeugend auch Maria Pawlus als Marina, ergreifend Erwin Feith als Narr und brillant Karsten Küsters als Waarlam, die hier stellvertretend für die große Besetzungsliste genannt werden sollen.

Ute Schalz-Laurenze

Nächste Aufführungen: am 21., am 25. und am 28. April im Theater am Goetheplatz