Kanzler, Kapital und Koexistenz

Die Ostberliner Kabaretts waren in der DDR „halb Prügelknabe, halb Hätschelkind“. Heute verteidigen sie das Ensemblekabarett gegen den Trend zu Einmannshows. Touristen kommen in ganzen Busladungen  ■ Von Miriam Hoffmeyer

„Achtung! Sie verlassen das Gebiet der BRD! Ossis only! Wessis Kostümzwang!“ Das Eingangsschild am Kabarett Kartoon spricht eine deutliche Sprache. Und doch herrscht der Kanzler der Einheit nirgendwo so unumstritten wie im Niemandsland des Ostberliner Kabaretts. Ein üppiger Kranz aus Kohlköpfen hängt im Kartoon, in der Distel erscheint plötzlich ein Kanzlerbild an der Wand.

Bei den Radieschen erregen schon die Worte „unser Kanzler“ glucksende Heiterkeit: „Alles, was gegen Helmut Kohl ist, finde ich prima!“ freut sich ein alter Westberliner SPD-Genosse im Publikum. „Leider verstehen viele unter scharfem Kabarett, daß man 27mal ,Birne‘ sagt“, stöhnt der Direktor der Kneifzange, Wolfgang Rumpf. Trotzdem hängt auch bei ihm die unvermeidliche Kohl-Gummimaske im Foyer.

Kanzler, Kapital und Koexistenz (von Ossis und Wessis) – das Ostkabarett hat seine drei Ks gefunden. Distel, Kartoon, Radieschen und Kneifzange haben nicht nur gemeinsame Lieblingsthemen, sondern auch ähnliche Strukturen: Sie verteidigen das traditionelle Ensemblekabarett gegen den westdeutschen Trend zu Einmannshows und Gastspielprogrammen, sie beharren auf politischen Themen und wollen von Comedy nichts wissen. Deshalb sind die Nummern oft reine Moralpredigten, beklatscht von denen, die sowieso derselben Meinung sind.

Im neuen Kartoon-Programm „Verdummt in alle Ewigkeit!?“ bejubeln Deutsche aus Ost und West gemeinsam den Wiederaufbau der Mauer: „Die alten Demarkationslinien wurden mit bunten Papierfähnchen geschmückt, Zehntausende feierten rührende Abschiedsszenen.“ Kein Wunder, denn hier weist sogar der Obdachlose aus dem Westen den Ostler, der „seit der Wende keine Wände mehr“ hat, auf ungeklärte Eigentumsverhältnisse an der Parkbank hin. Flotte Spielszenen wie diese trösten ein wenig über lehrhafte Monologe, verklemmte Erotik und unerhört angejahrte Wortspiele wie das mit der „doppelten Nullösung“ hinweg.

Mit der DDR in Haßliebe verbunden

„Ich will immer noch die Welt verändern!“ verkündet der künstlerische Leiter Peter Tepper unverdrossen. „Eines Tages wird der große bärtige Mann wiederentdeckt!“ Teppers Vollbart ist ebenso eindrucksvoll wie der seiner Marxbüste, und sein Kabarett ist eine Bastion derjenigen, die der untergehenden DDR einen „dritten Weg“ weisen wollten. Vor 17 Jahren begann die Truppe als Studentenkabarett „Öko Gnome“ an der Berliner Hochschule für Landwirtschaft. „Früher waren wir allerdings viel zu zaghaft und fromm“, meint der Kartoon-Leiter selbstkritisch: „Wir hätten mehr riskieren sollen.“

Die zahllosen DDR-Kabaretts verband eine zähe Haßliebe mit ihrem Staat. „Wir waren halb Prügelknabe, halb Hätschelkind“, erklärt Tepper. Als „Volkskunst“ wurde die Gattung kräftig gefördert: Allein in Berlin gab es vor zehn Jahren etwa 80 finanziell gut ausgestattete Kabarettgruppen, in der gesamten DDR waren es fast 400. Jeder große Betrieb, jede Universität und jedes Kulturhaus hatte ein Laienkabarett, dazu kamen die professionellen Häuser in Berlin, Leipzig und Dresden mit ihren riesigen Ensembles.

Die Kabarettisten sollten das kapitalistische Ausland und „Nebenwidersprüche“ der DDR-Gesellschaft geißeln: faule Arbeiter, geldgierige Handwerker, falsches Bewußtsein überhaupt. Im Gegenzug wurde den Künstlern gestattet, auch manches andere im eigenen Land zu kritisieren. Das Kabarett war ein Ventil, durch das die Bürger Dampf ablassen konnten. „Aber die Kritik mußte trotzdem liebevoll bleiben – so sehr, daß man sie schon für Streicheleinheiten halten konnte“, meint Tepper. Hohe Parteifunktionäre und die NVA-Spitze waren stets tabu.

Die Einhaltung der Spielregeln wurde schon bei den Proben streng überwacht. Am schärfsten wurde die Distel kontrolliert, die drei Monate nach dem Arbeiteraufstand 1953 ihr erstes Programm präsentierte. Alle Texte mußten der SED-Bezirksleitung zur Prüfung vorgelegt werden. Die Zensur brachte eine Kabarettästhetik der Andeutungen und ausgeklügelten Codes hervor. Wer sie zu deuten wußte, konnte aus den braven Programmen einiges herauslesen.

„Die Distel war der Ort, wo westliche Journalisten und Diplomaten hingingen, um Informationen zu bekommen“, sagt die Intendantin Gisela Oechelhaeuser stolz. Vor 1989 saß sie im Leipziger „Zentralhaus für Kulturarbeit“ in einer Kommission, die aus den vielen Laienkabaretts die Teilnehmer an den „Zentralen Arbeiter-Festspielen der DDR“ auswählte. „Ideologische und Qualitätsgesichtspunkte waren dabei ganz intensiv verquickt“, gibt sie zu.

Die Wende hat die alte Verschlüsselungsästhetik überflüssig gemacht. „Die Zeit der Codes ist vorbei, heute kann man alles offen sagen“, meint Gisela Oechelhaeuser. „Jetzt wollen wir das Kabarett als Theaterform.“ In den Distel- Programmen gibt eine zusammenhängende Geschichte den Rahmen für die einzelnen Nummern ab, die exzellente musikalische Begleitung bringt sinnliches Vergnügen ins Kabarett. „Im Westen geht die Sonne auf“ ist eine etwas wirre Parabel über eine neue Wende: In Amerika kommt ein Präsident an die Macht, der alles ändern will. Das gibt Anlaß zu einem fröhlich- konfusen Rundumschlag gegen Rechtsradikalismus und Geldhaie, das Bayernland und das Literarische Quartett. Bunt und lustig ist die Distel, auch wenn ihre Stacheln wohl niemandem sehr weh tun.

Wessis wollen hier den Osten erleben

Im Publikum sitzt ein drahtiger alter Herr und klatscht sich fast die Hände wund. „Ich bin seit 50 Jahren bei jeder Premiere gewesen. Die alten Distel-Programme waren scharf! Manchmal habe ich gedacht, die Schauspieler würden im Knast landen.“ Heute strahlt der frühere Kellner, der Pieck und Ulbricht bei Tisch bedient haben will, wenn „das Kapital“ angegriffen wird. „In der DDR ist es mir besser gegangen als heute, das können Sie ruhig aufschreiben. Diese dreckige Mark muß weg!“

Unzufriedene Ostberliner stellen aber nicht die Mehrzahl der Besucher. Den Anteil der Westler im Publikum schätzen die Leiter von Kartoon, Distel und Kneifzange auf mindestens die Hälfte, Gerd Hoffmann von den Radieschen sogar auf 80 Prozent: „Die Touristen kommen in ganzen Busladungen zu uns – die wollen nämlich sehen, wie wir im Osten denken“, erzählt er. Im Publikum sitzt ein 33jähriger Kommunalpolitiker aus dem Münsterland, der sich besonders über die Politikerwitze amüsiert, neben einem Pensionärspaar aus Frankfurt am Main. „Wir wollten in ein Ostkabarett, das finden wir gerade interessant“, sagt die Frau.

Die Radieschen Gerd Hoffmann und Matthias Kihr haben in Betriebskabaretten angefangen. Anfang 1990 sicherten sie sich Räume in der alten FDGB-Hochschule am Köllnischen Park – genau dort, wo früher der „Giftschrank“ der Bibliothek war, der Raum mit Büchern aus dem Westen. Am 18. April feiern die Radieschen ihr sechsjähriges Jubiläum. Das neue Programm „Porentief deutsch“ bietet viel Ostalgie (die alten DDR-Kaffeemaschinen seien nicht totzukriegen) und die übliche Politikerschelte (alles nur „geldgierige, machtgeile, unfähige Egoisten“). Das Verlesen satirischer Nachrichten ist eine recht ausgeleierte alte Masche, es gelingt kaum einem Kabarettisten, die glatte Professionalität der Sprecher im Fernsehen nachzuahmen. Viel lustiger sind Kihr und Hoffmann als besoffene „Doitschland!“-Brüller, die mit nationalem Nonsens erfreuen: „Vulkanausbrüche ... Würde ein deutscher Berg nie machen, so eine Sauerei!“

Alle Kabaretts im Berliner Osten spielen ihre Programme mindestens ein Jahr lang und aktualisieren sie nur selten. Die Kneifzange hat nun sogar ein Uraltprogramm recycelt: „Mensch! Deutschland“ heißt jetzt „Verarscht nach Quoten“. Verarscht fühlen sich auch die Zuschauer, wenn ihnen zum krönenden Abschluß ein Lied präsentiert wird, das sie schon in einem alten Kartoon-Programm gehört haben.

Vorher gibt es allerdings auch eine begnadete Slapstickszene über zähe Greise, die erst sterben wollen, wenn ihre Versicherungsbeiträge „abgepflegt“ sind. Und ein öliger Büromöbelvertreter aus dem Westen richtet ein Arbeitsamt im Osten neu ein, damit die Arbeitslosen „wenigstens ein Gefühl für Wohlstand, Sicherheit und Würde bekommen“.

Mit roten Zahlen den Kapitalismus schlagen

Die Kneifzange ist ein historisches Kuriosum: Das 1955 gegründete NVA-Kabarett war das einzige Armeekabarett der Welt. Sein Auftrag: die Moral der Truppe heben. Heute hat das Ensemble einige Mühe, den großen, ungemütlichen Raum im Handelszentrum an der Friedrichstraße halbwegs zu füllen. Aber auch die übrigen Ostberliner Kabaretts müssen scharf rechnen, keines bekommt öffentliche Zuschüsse. Peter Tepper ist sogar stolz darauf, daß sein Kartoon seit Jahren rote Zahlen schreibt. Trotzdem munter weiterzuspielen ist für ihn glatt ein Schlag gegen den Kapitalismus: „In unserem Jahrhundert gab es drei schlimme Parolen: ,Deutschland erwache‘, ,Die Partei hat immer recht‘ und ,Das rechnet sich nicht‘. Kabarett soll sich nicht rechnen!“

Der arme Schlucker ist optimistisch. Die Distel-Intendantin, deren stets ausverkauftes Haus durchaus schwarze Zahlen schreibt, klingt dagegen melancholisch-resigniert. „Früher“, seufzt Gisela Oechelhaeuser, „in der DDR, da war das Kabarett ein Ventil. Heute ist es bloß ein Alibi. Es bleibt folgenlos.“

Distel: „Die reine Leere“. Bis 28. 4. tägl. außer So., 20 Uhr. Sa., 18 und 21 Uhr. Friedrichstraße 101, Telefon: 200 47 04

Die Radieschen: „Porentief deutsch“. Bis 30. 4. (nicht 23.–25.4.), tägl. 20.30 Uhr. Am Köllnischen Park 6. Telefon: 630 86 28 10

Die Kneifzange: „Verarscht nach Quoten“. 27. und 30. 4., 20 Uhr. Friedrichstraße 95. Telefon: 20 96 22 36

Kartoon: „Verdummt in alle Ewigkeit!?“ Bis 21. 4. sowie 23., 26. und 27. 4., 20 Uhr. Französische Straße 24. Telefon 229 93 05