Der Iwan und die Tüte

Der Umgang mit Drogen ist in Rußland von Gegensätzen geprägt: von der Armee transportiert und konsumiert, von der Miliz konfisziert  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

In Deutschland kreist die Drogendiskussion um die Legalisierung von Dope und den Einsatz von Methadon. In den Niederlanden gerät die liberale Drogenpolitik seit der Öffnung der europäischen Grenzen zunehmend unter Druck. Ganz anders sieht der Umgang mit Drogen in Rußland aus: Einerseits verkaufen Händler aus mittelasiatischen Ländern ganz selbstverständlich neben Honig und Melonen auch Hanf. Andererseits beschlagnahmt die Miliz im Rahmen ihrer „Planerfüllung“ Drogen im großen Stil. Der Absatz wächst seit Jahren rapide an, und der Markt erscheint unerschöpflich.

Wenn sich im Frühling die Meldungen über beschlagnahmte Drogenkilos häufen, dann merken Moskauer Durchschnittsbürger: Die Miliz muß wieder einmal ihren „Plan erfüllen“. Daß die Ordnungshüter ihre Beute selbst verbrauchen, ist in Moskau ein offenes Geheimnis. Sachliche Informationen über den Verbleib der konfiszierten Ware sind schwer zu erhalten. Handel und Aufbewahrung von Drogen sind im Gegegensatz zum Konsum verboten. Die gesetzliche Lage verhindert natürlich nicht, daß Rußland einen schier unerschöpflichen und wachsenden Absatzmarkt für diese Art von Ware bietet.

Cannabis und Opium gehören seit Jahrhunderten zur Kultur der mittelasiatischen Staaten wie Usbekistan und Tadschikistan. Die von dort angereisten Händler bieten den Hanf im Sommer ganz selbstverständlich, neben Honig- und Wassermelonen, auf den Moskauer Wochenmärkten feil. Ein Kilogramm Haschisch kostet hier umgerechnet etwa 250.000 DM. In den grünen Tälern des dem Himalaya vorgelagerten Pamir-Gebirges wachsen das saftige „Gras“ und faustgroße Mohnblüten fast von allein.

Mit Sicherheit spielte der Kampf um klassische Anbaugebiete dieser natürlichen Drogen eine Rolle im Afghanistan-Krieg der achtziger Jahre. Auch heute ist dies ein wichtiges Motiv für das Eingreifen Rußlands im tadschikischen Bürgerkrieg. Niemand wundert es, daß Armeevehikel und Feldpost heute die wichtigsten Transportmittel für Drogen in Rußland sind – und die Soldaten ihre Hauptkonsumenten.

Noch kaum verbreitet ist in der Russischen Föderation hingegen das Kokain. Der Grund: Die Preise sind hier etwa achtmal höher als in den USA. Geographische Entfernungen spielen eben selbst im Jet-Zeitalter bisweilen eine Rolle. Die russische Wochenzeitschrift Neue Zeit bezeichnete das Kokain in Rußland als „Droge der Mafia-Bosse und Glückspilze“. Dafür ist die Jugendkultur der russischen Großstädte ohne Hasch, aber auch synthetische Drogen, vor allem ohne LSD und Perventinum, nicht mehr denkbar. Großes Aufsehen erregte letzten Sommer der Gerichtsprozeß gegen die 22jährige Dichterin Alina Wituchnowskaja. Sie hatte in der Neuen Zeit mehrere Artikel über LSD veröffentlicht und wurde nun selbst wegen Handels mit diesem Halluzinogen – im Werte von 20 Dollar! – angeklagt. Ein ganzes Jahr mußte sie unter menschenunwürdigen Umständen in Untersuchungshaft sitzen. Alina kam schließlich frei, weil sich die Anklage gegen sie als fabriziert entpuppte. Die Zeugen fielen vor Gericht um wie Dominosteine. Welches Interesse, so fragte sich die Öffentlichkeit, konnte der ehemalige KGB (heute „Föderaler Sicherheitsdienst“) nur mit der Inhaftierung der zierlichen Person verfolgt haben?

„Ganz einfach“, meint die in Moskauer Szene-Kreisen populäre junge Frau: „Jagdeifer glomm in ihren Augen erst auf, als sie mich nach dem Drogenmißbrauch unter Kindern einflußreicher Persönlichkeiten befragten. Sie brauchten kompromittierendes Material vor den Wahlen. Sonst gar nichts.“

Eindringlich warnt Alina Wituchnowskaja, es sei geradezu zur Massenpraxis der Miliz und der Geheimdienste geworden, jungen Menschen durch V-Leute Narkotika zu vermitteln und die Betroffenen nach ihrer Festnahme gefügig zu machen. Als Folge der Erpressung durch Haft werde bereits heute eine totalitäre Zukunftsgesellschaft geboren, warnt die Dichterin.

Veronika, eine sehr junge Frau, die ich im Moskauer Nachtclub „Ptjutsch“ traf, kommentierte diese düstere Aussicht mit den Worten: „Am besten wandere ich nach Holland aus.“ Veronika will ihren gelegentlichen Joint partout nicht missen. Die Frage, warum, beantwortet sie naseweis: „Es tut mir gut, wenn ich manchmal meinen Namen vergesse und mich dafür erinnere, wer ich wirklich bin.“