: Kriminalisierung ist unerträglich
■ Die Selbsthilfegruppe "Cannabis als Medizin" fordert ärztliche Indikation
Anfang November 95 hat sich in Berlin die Selbsthilfegruppe „Cannabis als Medizin“ gegründet, die derzeit rund 50 Mitglieder zählt. Der 29jährige Krebskranke Alexander Remmele berichtet über die die Erfahrungen und das Anliegen der Gruppe.
Wir sind Menschen mit Aids, Krebs, multipler Sklerose und anderen schwerwiegenden chronischen Erkrankungen. Wir alle haben individuelle Erfahrungen mit der lindernden und heilenden Wirkung von Cannabis gemacht. Ich selbst gebrauche Cannabis seit vielen Jahren mehr oder weniger regelmäßig als Rausch- und Genußmittel. Als ich 1992 an Krebs erkrankte, änderte sich daran zunächst nichts, bis ich vor zwei Jahren zum ersten Mal von den medizinischen Anwendungsmöglichkeiten hörte. Davor hatte die öffentliche Lügenpropaganda gegen Haschisch und Marihuana bei mir insofern Spuren hinterlassen, als daß ich ein ungutes Gefühl angesichts der möglichen Folgen des regelmäßigen Konsums nie ganz loswurde. Die Idee, Cannabis gezielt therapeutisch einzusetzen, wäre mir damals nie gekommen.
Heute weiß ich, daß auch bei regelmäßigem Gebrauch, außer des schädigenden Einflusses auf die Atemwege, keine weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erwarten sind. So ist Cannabis für mich inzwischen zu einem unverzichtbaren Medikament geworden, mit dessen Hilfe ich Übelkeit und Erbrechen (hervorgerufen durch die Chemotherapie) deutlich lindern und Appetitlosigkeit wirkungsvoll bekämpfen kann. Darüber hinaus ermöglicht mir erst die stimmungsaufhellende, leicht stimulierende Wirkung, einigermaßen „normal“ am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilnehmen zu können.
Vergleichbares gilt für die Mitglieder der Selbsthilfegruppe, die an Aids erkrankt sind und häufig innerhalb kürzester Zeit stark an Gewicht verlieren, was zu einer weiteren Schwächung der ohnehin schon beeinträchtigten Abwehrkräfte führt. Ohne Übertreibung kann man behaupten, daß eine Gewichtszunahme in diesen Fällen lebenserhaltend und -verlängernd wirkt. Andere Mitarbeiter der Gruppe, die unter chronischen Schmerzen leiden, berichten, daß sie die Dosis an starken Schmerzmitteln aus der Gruppe der Opiate, die auch entsprechend starke Nebenwirkungen haben, durch die gleichzeitige Einnahme von Cannabis deutlich reduzieren können.
Auch jüngste wissenschaftliche Ergebnisse und klinische Studien bestätigen unsere oben beschriebenen Erfahrungen. Vor diesem Hintergrund haben wir beschlossen, aus unserer Vereinzelung herauszutreten und die unerträglichen Folgen der Illegalität und Kriminalisierung nicht länger hinzunehmen. So ist es beispielsweise äußerst problematisch, bei schwankender Qualität oder gar Unreinheit des erworbenen Arzneimittels, dieses konstant zu dosieren – von den finanziellen Belastungen, die jeder einzelne zu tragen hat, ganz zu schweigen.
Deshalb wollen wir durch Öffentlichkeitsarbeit und Einflußnahme auf politisch Verantwortliche im Gesundheitsbereich erreichen, daß Cannabis und synthetische Cannabisprodukte zukünftig nach medizinischer Indikation auf ärztliches Rezept in Apotheken erhältlich sein werden. Zur Zeit erstellen wir in Zusammenarbeit mit Ärzten und Juristen ein Abgabenmodell, daß wir politischen Entscheidungsträgern und zuständigen Behörden vorzulegen beabsichtigen. Alexander Remmele
Die Selbsthilfegruppe „Cannabis als Medizin“ trifft sich jeden dritten Mittwoch im Monat bei der Selbsthilfe-, Kontakt- und Informationsstelle (Sekis), Albrecht-Achilles- Str. 65, 10709 Berlin, Tel.: 030-8926602, Fax: 030-8935494.
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