Mehr Mord als Zuneigung

■ 24 Stunden Fernsehen am Stück: Hält man das aus und warum? Greifswalder Jugendliche glotzten und glotzten. Unter die Probanden mischte sich Lutz Meier

Das war eine harte Nacht. 48 Morde und keine Leichen. Nur Matratzen, Chipsreste, Staniol. Wirklich, eine harte Nacht. So viele Delinquenten: Verführer, Frauenfeinde, Freunde der Gewalt.

Harald Schmidt zum Beispiel: Über den Latenight-Talker Schmidt ist das Urteil schon gesprochen. Flach war er letzten Samstag wieder, klar. Aber flach reicht nicht: „Rassismus,“ sind sich die Jugendlichen einig, die am Tisch über 24 Stunden Fernsehen richten, haben sie in Schmidts Sendung entdeckt, und „Verletzung der Menschenwürde.“ Ireen spricht das Verdikt aus. Ireen guckt fast nie fern, wie sie sagt. Gekommen ist sie, „um mal zu gucken, was die meisten Leute den ganzen Tag so machen“.

Harald Schmidt, das ist jetzt schon sehr, sehr lange her. Vor dreizehneinhalb Stunden war es, ein Witz über Polen, eine halbe Stunde vor Mitternacht. Lange vor Gregory Peck, acht Morde, zwei Bettszenen. Vor „Vision der Dunkelheit“, Horror. Trude ist trotzdem eingenickt. Vor Grace Kelly auch, vor der Pizza und vor neun Tüten Kartoffelchips.

Einmal wollten die acht Mitglieder des bündnisgrünen Jugendverbands alles fressen, was die Satellitenschüssel so einfängt in 24 Stunden. Als „Experiment“. Jetzt haben sie einen Fernseh-Kater. Jetzt sitzen sie vis-a-vis von dem Ding auf dem Innenhof des Greifswalder Kulturzentrums, kneifen die Fernsehaugen zusammen, weil die Empfangsschüssel das Sonnenlicht reinspiegelt. Jetzt fragen sie sich: Wozu haben wir uns das angetan? Die Witze von Schmidt und Dall und Boning haben sie gesehen und die Haushaltshäcksler im „Sell-TV“. Die Schenkel von Anna Magnani und die Cellulitis von Ladi Di. Bomben im Libanon, die Walkabouts live, Nationalhymne, Tigerente, Marathon im Regen und die Brüste von Baywatch.

24 kurze, gedehnte Stunden. Ein Tag, eine Nacht – Fernsehen, ein langer, unruhiger Fluß. Serie, Nachrichten, Talk, Horror, Kino, Trickfilm. Kann man das alles irgendwo entsorgen?

„Was machen wir denn jetzt damit?“ fragt auch Burkhard Senst, der sich die ganze Aktion mitausgedacht hat. Einmal „bewußt mit dem Medium umzugehen“, hatte er sich vorgestellt. Ist der Bildschirm voller Gewalt, übler Werbung, Pornographie? Man hat Strichlisten vorbereitet. Ist die Jugend am Schirm „sittlich gefährdet“, wie es im Rundfunkstaatsvertrag heißt, dem Dokument, das sich anheischig macht, dies zu unterbinden? Doch die acht Jugendlichen fühlen sich seltsam unverwandelt nach den Stunden. Was kann man schon sagen, außer daß „fast immer dasselbe“ passiert? Daß US-Serien flach, Werbespots oft frauenfeindlich und die Nachrichten im Privat-TV oberflächlich sind. Was man ja auch schon vorher wußte. Abarbeiten am vorbereiteten Fragebogen: „Sexismus“ kann man dort eintragen, „Gewalt“ und „Pornographie“. Letztere gab's aber nicht. Bettszenen werden unterhalb der Toten gezählt. Das Verhältnis ist 48:6. Mehr Mord als Zuneigung. Eben eine harte Nacht. Irgendwie will dieser Bewertungsrahmen so gar nicht zu dem passen, was man seit gestern mittag erlebt hat. Da haben acht Jugendliche 24 Stunden lang geguckt, und kaum einer redet von den Bildern. Oder von den Augen.

„Nach vier Stunden“, berichtet Trude, „habe ich nur noch durch den Fernseher hindurchgeguckt. „Jetzt“, sagt sie, könnte sie noch Tage weitergucken. „Man wird apathisch“, so ihr Befund, „aufnahmebereit und aufnahmeunfähig zugleich.“ – „Das Schwerste“, sagt Kai, „war überstanden, als die Sendung mit der Maus kam.“ Willkommen zu Hause, sozusagen. Bei der ARD kletterte die Maus über ein Loch, im DSF rauschte zeitgleich ein Motorrad in die Bande und fing Flammen – auf dem anderen Monitor. „Endlich,“ hat die müde Zuschauerrunde da geraunt. Auf irgendsoetwas hatte man die ganze Zeit gewartet. Verändert sich der Blick beim Glotzen? Schulterzucken.

Ein Experiment als Stochern im Niemandsland der Medienerziehung. Geht es um das Medium, das man kritisieren will? Fernsehgucken macht uns aggressiv, stellen die acht fest. Geht es um das Angebot? „Anspruchsvolle Kulturfilme“ will Ireen im Programm haben. Worauf sie sich sogleich in der Definition verheddert, weil schon in der Gruppe die Ansprüche kreuz und quer gehen. Darf man die „Lindenstraße“ klasse finden und die Collegeserie „Girls just wanna have Fun“ mies? Zu welchem Zweck überhaupt glotzt der Mensch? „Man tut ja nicht nur Intelligentes“, sagt Björn in die Sonne. Aber für diese Erkenntnis sind 24 Stunden eine recht lange Lernzeit.

Es ist ein friedlicher Sonntag in Greifswald. Die Sonne scheint, die Glocken der Marienkirche läuten. Man kann ein Eis essen, durch die Salzwiesen spazieren. Im Ersten käme jetzt die neue „Lindenstraße“. Doch Fernsehen ist vergessen wie die 24 Stunden. Unverdorben geht die Jugend durch den Frühling.