: Bollwerk statt Boulevard
■ Eine Dokumentation zur Ost-West-Straße widerlegt liebgewordene Vorurteile über den „Schnitt durch die Stadt“
Wenn Hamburgs Oberbaudirektor Egbert Kossak über den Nachkriegsstädtebau spricht, dann entsteht beim unbedarften Zuhörer sofort das Gefühl, alle seine Vorgänger auf diesem Posten seien Barbaren gewesen. Mit dem Zorn einer griechischen Tragödie drückt Kossak bei öffentlichen Vorträgen einen verbalen Sprengkopf nach dem anderen für die Spuren vergangener Visionen. Das findet natürlich leicht den allgemeinen Beifall, denn nicht nur der Architekturgeschmack hat sich seit den 50er Jahren gewandelt, auch die ökologischen und stadträumlichen Probleme, die der Nachkriegsstädtebau hinterlassen hat, sind immens und offensichtlich. Der aufgelockerte Stadtentwurf der Moderne hat zu mehr Flächenverbrauch, mehr Autoverkehr und weniger Urbanität geführt.
Dennoch ist eine geistige Abräumarbeit im Sinne Egbert Kos-saks hier völlig fehl am Platze. Zum einen, weil die grundsätzliche Verdammung der Nachkriegsplanung absichtlich verkennt, daß die Ideen der Moderne als Reaktion auf den Städtebau des 19. Jahrhunderts eine bessere Stadt suchten. Und zum anderen, weil man es selbst erst einmal besser machen muß, bevor man sich mit Kollegenschelte so weit aus dem Fenster hängt.
Der tödliche Wunddoktor
Kossak, der gerne davon spricht, daß der Städtebau der Nachkriegszeit die Gesichtslosigkeit der zerbombten Hamburger Innenstadt noch „brutalisiert“ habe, hat als eine der schlimmsten Sünden dieser Zeit immer wieder die Ost-West-Straße angeführt. Die von ihm auch gerne als „Wüste“ oder „schlimmste Wunde“ bezeichnete Tangente, die zwischen 1956 und 1963 nach einer über 40jährigen Planungsgeschichte durch Alt- und Neustadt gebrochen wurde, ist jetzt Gegenstand einer Dokumentation.
Dem großformatigen Wälzer Der Schnitt durch die Stadt von Michael Wawoczny kommt neben der dezidierten Aufarbeitung der Historie vor allem das Verdienst zu, nicht in die stumpfe Abkanzelung der Ost-West-Straße einzustimmen, die neben Kossak auch andere Politiker und Journalisten – meist in Unkenntnis der Fakten – betreiben. Vielmehr weist Wawoczny nach, daß die eigentliche Ausformung der „Wunde“ in der Amtszeit eben jenes Oberbaudirektors geschah, der sie dafür schmäht. Dagegen bewahrten die früheren Planungen immerhin noch die Chance, daß sich die Ost-West-Straße statt zur innerstädtischen Autobahn zu einem Boulevard entwickelt. Diese Chance wurde erst unter Egbert Kossak gründlich und für lange Zukunft vernichtet.
Denn ein Boulevard braucht Menschen und das setzt voraus, daß man diesen Anreize schafft, sich dort aufzuhalten. Kossak und seine altgedienten Hamburger Architekten aber nahmen die Baulückenschließung der letzten Jahre zum Anlaß, das Wort „Boulevard“ wörtlich zu nehmen und ein Bollwerk zu schaffen, das jeden Fußgänger von der Ost-West-Straße vertreiben muß.
Konsequente Canyonbildung
Die Erdgeschoßzonen wurden bei allen Neubauten als meterhohe, nackte Wände gestaltet, die das Vorbeigehen zur Qual machen. Geschäfte, wie sie für die Neubauten der 50er und 60er noch selbstverständlich waren und die ein Kontorhaus erst zu einem solchen machen, wurden schlicht verboten. Die monofunktionale Nutzung – ausschließlich Büros – wurde weit radikaler umgesetzt, als der verachtete Nachkriegsstädtebau es je getan hat. Alle Eingänge und Anfahrten wurden in die Seitenstraßen verlegt, so daß nicht einmal mehr die hier tätigen Menschen die Ost-West-Straße betreten müssen. Und schließlich wird auch der Verkehrsfluß so einladend am Fließen gehalten, daß die bittere Klage des Oberbaudirektors über den Durchgangsverkehr wie die reine Heuchelei klingen muß.
Kossak, der immer gerne über architektonische Leitbilder und ein „harmonisches Stadtbild“, aber sehr wenig über Nutzungen spricht, hat immer angeführt, die Canyonbildung sei als Schallschutz gegen den bösen Verkehr notwendig. Dabei zeigt der Blick in jede beliebige europäische Metropole, daß weit befahrenere und breitere Straßen zu den Anziehungspunkten der Städte werden können, wenn man für Menschen plant und nicht für „architektonische Leitbilder“.
Hau weg den Scheiß
Auch in der Mißachtung der Altbausubstanz steht die Entwicklung seit den Achtzigern der Vergangenheit in nichts nach. Trotz angeblicher Liebe zum Erbe der Gründerzeit wurden für beinahe jedes Neubauvorhaben der letzten Jahre die kärglichen Zeugnisse der Vergangenheit unbekümmert eliminiert. Kontorhäuser, Speicher, Wohnhäuser, meist noch als denkmalwürdig anerkannt, fielen den neuen, häßlichen Backsteinriesen zum Opfer. Wer sich durch das umfangreiche und gelegentlich überausführliche Werk Wawocznys hindurchliest, wird also schmerzlich feststellen, daß weniger die eigentliche Straßenführung Baudenkmäler vernichtet hat, als die willentliche Ansiedlung großer Verwaltungsbauten durch Hamburgs Stadtplaner.
Neben der Aufbereitung der bizarren Geschichte der Ost-West-Straße leistet Der Schnitt durch die Stadt auch eine prima Darlegung sich wandelnder Stadtplanungskonzepte in diesem Jahrhundert. Wer sich die Zeit nimmt, kann hier viel über die Entwicklung der Hansestadt seit Fritz Schumachers Zeiten lernen. Till Briegleb
Michael Wawoczny: Der Schnitt durch die Stadt; Dölling und Galitz, 252 S., 200 Abb., 56 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen