Tanzen mit der Schildkrötenlotte

„Nervenreizsucht“: In den zwanziger Jahren trieb die Wirtschaftskrise die Leute auf die Straße, nicht aufs Sofa. Curt Morecks „Führer durch das lasterhafte Berlin“ ist als Reprint erschienen  ■ Von Nora Sobich

Darüber, wann Berlin seine beste Zeit hatte, werden sich noch Generationen streiten. Die zwanziger Jahre stehen allerdings hoch im Kurs. Schließlich wurde Berlin zur Weltstadt, die Moderne begann, und die Berliner kannten sich noch in einem beneidenswerten Lebensstil aus. Flaniert wurde ohne Ende, im Romanischen Café ein Mokka nach dem anderen getrunken. Politik hin oder her – wer zu Hause blieb, wurde auch nicht glücklicher, und so tanzte man lieber die Nächte durch. In den goldenen Zwanzigern war nichts etabliert, da war alles auf der Suche und in Bewegung, da waren die Sehnsüchte noch weit und die Wünsche heiß und frivol.

Ein Reiseführer durch das „lasterhafte“ Berlin der späten Zwanziger ist jetzt im Nicolai Verlag in einem Faksimile der Ausgabe von 1931 erschienen. Der Autor Curt Moreck, im bürgerlichen Leben als 1888 geborener Konrad Haemmerling bekannt, erzählt mit scharfer Zunge und witzigen Formulierungen, wo und wie man sich im Berlin der Zwanziger prächtig amüsieren konnte. Die bösartigen Kriminalgrotesken Walter Serners fallen einem ein, wenn Moreck „die Unterwelt und was man so nennt“ vorstellt.

Morecks Reiseführer, zur „Grünen Woche“ in einer Auflage von 50.000 Exemplaren erschienen, galt schon damals als absoluter Renner. „Innerhalb von zwei Wochen waren die Bücher vergriffen“, sagt die heute noch in Berlin lebende Witwe Ruth Haemmerling. In Antiquariaten werden die letzten Exemplare der Erstausgabe seit Jahren als Raritäten gehandelt. Im Zentrum für Berlin- Studien im Ribbeck-Haus in der Breiten Straße haben Fans der Zwanziger Jahre nicht nur die Originalausgabe geklaut, sondern gleich noch die zwei 1987 in der Edition Divan erschienenen Reprintausgaben. Der lasterhafte Reiseführer liefert den aktuellen Identitätsdebatten um die wiederauferstandene Hauptstadt vielleicht so etwas wie Halt und festen Boden.

Behutsam und charmant nimmt Curt Moreck den Berlinbesucher an die Hand und führt ihn vom Nachmittag bis zum frühen Morgen durch Cafés, Mokkadielen, Tanzpaläste, Kabaretts, Homosexuellen- und Lesbenclubs bis zu Nacktbadestellen, den sogenannten Nuttenaquarien. Reisen heißt die „Intensität der Gegenwart erleben“, und dafür müssen schon mal die ausgetrampelten Touristenpfade verlassen werden.

Nichts anderes als eine „aufdringliche Schaustätte zusammengedrängten Kitsches“ sei die Friedrichstraße. „Von der Aufklärung im Bildautomaten bis zur Bernsteinkette für den Fetthals der daheimgebliebenen Gattin“ konnte man in den Passagen damals – wie heute wieder – alles kaufen.

Ins Schwärmen gerät der Spezialist für die dunklen Ecken, der zahlreiche Romane und Novellen herausgegeben, sich aber vor allem mit Kultur- und Sittengeschichte beschäftigt hat, wenn er über den Tauentzien, die „ausgesprochene Nachmittagsstraße“ schreibt. „Die Fassaden sind von unten bis oben ganz lichtüberflammt, sie sehen aus wie transparent“, schreibt Moreck, als wäre der Neubau von Peek und Cloppenburg schon damals zu besichtigen gewesen.

„Wer für maritime Leckerbissen passioniert ist, wird im Borchard keine Enttäuschung erleben“, wer „Sensationslust und Nervenreizsucht“ erleben will, muß sich zum Stettiner Bahnhof oder Alexanderplatz aufmachen, wo „die Zwingburg der Gerechtigkeit, Berlins Scotland Yard sich erhebt“ und gleichzeitig die Unterwelt zu Hause ist. Moreck hat für jeden das passende Amüsement. Strandfeste in Mundts Festsälen an der Köpenicker Straße 100, östliche Lebenslust im „Resi“ an der Blumenstraße oder – für Ältere – Clärchens Witwenbälle.

Wie jeder historische Reiseführer regt auch diese Faksimileausgabe zu Vergleichen von Gestern und Heute an. Manches ändert sich nie: „... und der Berliner telefoniert mehr als jeder andere Weltbürger.“ Andere Lebensweisen haben sich leider allzusehr geändert: Heute treibt die wirtschaftliche Misere die Menschen eher nach Hause und vor den Fernseher als auf die Straßen und ins wilde Nachtleben. Den eigentlichen Reiz des Buches machen allerdings die Beschreibungen der Damen- und Herrenwelt und die kleinen Anekdoten aus.

Auf die Scherzfrage nach dem Geschlecht soll ein Transvestit im Lokal „Mikado“ an der Puttkamerstraße geantwortet haben: „Weder noch! Ich bin ein Herrchen!“ Bei den berühmten Laternenfesten im „Resi“ träufelten angeblich tausend kleine Lampen „... rosigen Schimmer über die im Tanz erglühten Gesichter der Mädchen, die hier ein wenig Freude suchen“.

Wunderbar an dem kleinen Buch sind auch die Illustrationen von Heinrich Zille, Jeanne Mammen, Christian Schad oder George Grosz mit so schönen Bildunterschriften wie: „Die Schildkrötenlotte, für die nur Neger Männer sind“ oder: „Herr Kapellmeister, noch ein Schwänzchen?“

Auf einer Abbildung flüstert ein Mann hinter vorgehaltener Hand einem Pärchen zu, das über die Kochstraße flaniert: „Gleich um die Ecke, meine Herrschaften! Da könn' Se alles haben, alles!“ Wer wäre da nicht gerne mitgegangen?

Curt Moreck: „Führer durch das lasterhafte Berlin“. Nicolai Verlag, Berlin 1996, Faksimile der Ausgabe von 1931, 78 DM