Bei der „Zeit“ müssen Redakteure und Karikaturisten in den Keller, wenn sie lachen wollen. Bei der taz aufs bewieste Dach: 24 Stunden hielten 60 Zeichner das Redaktionsgebäude besetzt – und verdrängten mit Tusche und Tinte den Text Thorsten Schmitz und Christian Schulz
(Fotos) über eine Geburtstagsüberraschung

Tatort taz

Plötzlich stoppt Nancy ihr Tagwerk. Und staunt. Einen Aschenbecher mit Wasser füllen – warum tut der Typ das nur? Und: Wer ist das überhaupt?

An normalen Werktagen versorgt Nancy die taz-Belegschaft mit Wurst- und Käseschnittchen, Gurken und Tomaten, Thunfisch und Schokocroissants – und wundert sich über gar nichts. Dieser Dienstag aber ist kein normaler Tag, sie wird ja wohl mal fragen dürfen: Ob er seine Zigaretten „ertränken“ wolle im Aschenbecher- Bassin? Hendrik Dorgathen läßt fast den Aschenbecher fallen – und erteilt Nancy eine Lektion in Improvisation: „Ich finde kein Glas, und irgendworin muß ich doch meinen Pinsel auswaschen.“

An alles hatte Dorgathen gedacht, an Pinsel, Tusche, Zeichenpapier. Daß es sich aber empfiehlt, auch noch das eigene Glas mitzubringen – darauf wäre er nicht im Traum gekommen. „Das ist taz“, sagt Nancy. Und schnippelt hartgekochte Eier.

Den weiten Weg von Mülheim an der Ruhr in die Schaltzentrale der taz hat Dorgathen auf sich genommen, um ihr ein neues Gesicht zu verpassen – wenn auch nur für einen Tag. Die taz feierte am Mittwoch ihren 17. Geburtstag mit der Karikaturen-taz. 60 andere Karikaturisten taten es Dorgathen gleich und hielten das Redaktionsgebäude 24 Stunden lang besetzt. Mit Tusche und Tinte.

Noch jede Hausbesetzung folgt gewissen Regularien, und so mußten die Karikaturisten sich belehren lassen, wie eine Zeitung überhaupt funktioniert. Üblicherweise sitzt ein Karikaturist zu Hause allein im stillen Kämmerlein neben Telefon und Fax – und wartet auf den Auftrag.

Montag nachmittag um drei: Klaus Hillenbrand, Chef vom Dienst, hängt die Meßlatte ziemlich hoch. Sanft-sonor verlangt der vom taz-Komponieren heute Befreite von den versammelten Zeichnern: „Also, im Idealfall arbeitet ihr morgen so wie eine normale Redaktion.“

Hillenbrands Vorstellung vom Idealfall quittieren die Karikaturisten mit beredtem Schweigen, einer pult sich mit einer Lucky- Strike-Packung den Nageldreck weg, zwei kratzen den grauen Backenbart. „Ich fühle mich wie in der Schule“, nuschelt einer ins Ohr des Kollegen, „überfordert.“ Die Ankündigung Hillenbrands, die eigentliche Konferenz zur Karikaturen-taz beginne „morgen punkt neun“, verschreckt die vorzugsweise nachts arbeitenden Künstlerseelen nachhaltig: „Um Gottes willen“, sagen vier auf einmal. „Kann ich auch meine Zeichnung von zu Hause aus faxen?“ will einer wissen.

Wer zuerst kommt, malt zuerst – nach dieser Devise greifen sich die 30 anwesenden Karikaturisten die narrensichersten Themen ab: Tunnelgangsterprozeß und Lebensmittelvergifter, Uhrenabstellen in Cottbus und Schumacher zum Grand Prix. Von den „nicht erfreulichen“ Themen, die nach Hillenbrands Philosophie „in der Luft liegen“ wie Israel-Bombardement, und „immer wieder in der Luft liegen“ wie Sparzwang, lassen sich die taz-Gäste nicht so schnell begeistern. Und noch weniger von der Idee, daß am Produktionstag einer das Zepter übernehmen soll.

„Wer leitet die Inlandsredaktion?“ fragt Chefredakteur Norbert Thomma und zieht tief an seiner Zigarette. Butterweich bohrt Thomma, der sonst nie öffentlich raucht: „Jutta, du vielleicht?“ Die Hamburger Kinderbuchillustratorin und Brigitte-Zeichnerin Jutta Bauer verzieht das Gesicht: „Och nö. Was muß ich denn da machen?“ Ein Auslandschef läßt sich schon gar nicht finden. „Rainer“, bettelt Thomma, „wie wär's.“ „Da bin ich nicht firm“, stammelt Rainer Hachfeld. „Das steht in alter taz-Tradition“, kippt Thomma zuckersüß auf Hachfelds zitternde Seele. Wenn das die Auslandsredaktion hören würde.

Doch die Verlockung, eine ganze Zeitung zeichnen zu dürfen, ist so groß, daß die Zweifel verschwinden. Getrieben von der Gewißheit, gedruckt zu werden, ergriffen von der Lust am Strich, schaffen sich die temporären taz-Talente einen paradiesischen Arbeitsplatz – und produzieren schon mal wild drauflos. „Alles, was fertig ist, hilft.“ Der Satz von Fotoredakteurin Petra Schrott klingt ihnen noch in den Ohren, auch der motivierende Zusatz „Wenn einer ein Dreieck malen will, kann er das machen“ – und so entdecken sie den derzeit himmlischsten taz-Ort für sich, wo die Chefkrise verpufft und Berlins Mief nicht zu fassen ist: das grasbewachsene Dachtableau im 5. Stock.

Sie rücken Stühle und Tische in die Sonne und kritzeln, zeichnen, skizzieren, radieren, knüllen, kiebitzen. Wie im Fieberwahn. Sie reden miteinander, aber fast nie von Auge zu Auge. Stets ist der Blick auf die Zeichnung gebannt.

Hendrik Dorgathen strahlt vor Glück. Der Himmel funkelt blau, die Sonne scheint – und er darf zeichnen: „Allein das ist die Reise wert.“ Holger Fickelscherer schätzt das Gespräch unter Kollegen über Kollegen – und Jutta Bauer, daß sie dabei ist.

Wie sie überhaupt die taz finden, das fragt hier jeder jeden. Fuchsi liest sie immer nur dann, „wenn was von mir drin ist“. Beck findet sie zu teuer. Jutta plärrt, ohne aufzugucken, „klar ist die taz klasse“. Als am nächsten Tag eine ZDF-Reporterin wissen will, ob sie sich früher dafür geschämt hätte, bei der taz Karikaturen zu zeichnen, da sagt Jutta jubilierend: „Nö, eher hätte ich mich für die Brigitte geschämt.“ Im „heute journal“ am Abend kommt diese Szene nicht vor. Überhaupt: Daß die taz-Redakteurinnen und -Redakteure so „freundlich“ und „zuvorkommend“ sind: „Wer hätte das gedacht?“ Bei der Zeit, sagt einer, müsse man zum Lachen in den Keller gehen. Bei der taz aufs Dach.

Zaghaft geht die Sonne unter, die ersten Biere werden geöffnet, ein kühler Wind streicht durch die Papierberge – während die Karikaturisten der taz das Geburtstagsgeschenk bereiten, tagt fünf Stockwerke tiefer chefkrisenhalber die Redaktion. Und plötzlich hat Jutta Bauer eine Eingebung: „Das ist es: Wir malen eine Karikaturen-taz, und die Redaktion diskutiert darüber, daß die, die sie angeleiert haben, die Zeitung nicht so bunt und albern machen dürfen.“

Sie malt einen taz-Redakteur, der gefährlich nah am Hochhausrand hockt – und einen Clown, der Pogo tanzt. Nur so, denn sie soll ja was zum Lehrernotstand abliefern. „Ich gebe das der Fotoredaktion, vielleicht können die das unterbringen.“ Sie können nicht.

Das Thema „Tatort taz“ entdeckt Hendrik unter freiem Himmel. Auf der Dachwiese steht ein benzinbetriebener Rasenmäher – „Und das in der taz!“ Dorgathen will einen Krimi malen: Im Herzen ökologisch korrekten Zeitungmachens deckt ein Detektiv einen Umweltfrevel auf.

Mit jedem Schluck Bier und jedem Satz mehr sprühen die Ideen. Die ganze blödsinnige Welt fließt aufs Zeichenpapier. Einer zeichnet eine Welt, „in der alles funktioniert“, einer illustriert den Flughafenbrand in Düsseldorf, „wobei das sehr, sehr gefährlich ist“. Beck zeigt Jutta seinen Entwurf zum Tunnelgangsterprozeß, den er kurzerhand mit dem Tiergartentunnel-Protest verquickt – und Jutta lacht sich halbtot über die „Kackhaufen“, die doch Erdhaufen sein sollen. Irgendwann fragt Hendrik Dorgathen in die relaxte Runde: „Was kriegen wir eigentlich dafür, daß wir hier sitzen?“ Erst herrscht Ratlosigkeit, dann Bestimmtheit: „Nix“, sagt Jutta, „was macht das schon.“

Beflügelt von der Idee, das kriminellste Dorf Deutschlands zu erfinden, hocken die letzten Karikaturisten bis weit nach Mitternacht in der taz. So lange wird dort ganz selten gearbeitet.

Am Dienstagmorgen um neun sind alle wider Erwarten hellwach, die ersten Handys klingeln, Verabredungen für den Abend werden getroffen – und Jörg kriegt die Augen nicht mehr auf. Seit einer Woche feilt der Layouter an der Gestaltung der Karitaz: „Dit is mir allet zuviel.“ Klaus Hillenbrand verteilt die über Nacht hinzugekommenen Nachrichten, Petra lockt formvollendet die Malmeute: „Wir hätten da noch eine ganze Seite, auf der ihr euch verwirklichen könnt.“ Verblüfft registrieren die für die Sondernummer abkommandierten tazzler, in welcher Kurortstimmung der Produktionstag hinplätschert – fast alle haben ihre Zeichnungen bis zum Vormittag fertig.

„Wir sind arbeitslos, hast du nicht noch ein Thema für uns?“ Petra könnte vier Seiten mehr bedrucken, aber mal eben den Zeitungsumfang erweitern ist nicht drin. Petra ist die charmanteste Neinsagerin der taz: Ihr Lächeln versöhnt die Karikaturisten mit dem Nichtstun.

So lassen sie sich willig interviewen von Fernsehreportern, einer fönt seine Tuschezeichnug extra fürs ARD-„Mittagsmagazin“ noch ein zweites Mal. Und sie zeichnen und zeichnen: Nichts und niemand kann sie stoppen.

Als die Chefredakteure Arno Luik und Norbert Thomma die Pressekonferenz auf der taz-Wiese moderieren, lassen sich die Nachrichtenzeichner durch die Journalisten nicht aus der Fassung bringen. Sie nehmen sie gar nicht wahr, schon gar nicht Jutta.

Während Thomma spricht, kritzelt Jutta ein Schaf. Es steht auf dem taz-Dach, und Journalisten stecken ihre Mikrofone in Maul, Ohren und Hintern. „Komisch“, sagt Jutta, „immer wenn mir nichts einfällt, male ich Schafe.“

P.S. Die schönste Aboanzeige seit Bestehen der taz zeichnete Detlef Surrey – auf Seite 11 der Karitaz. Detlef, tausend Dank!