■ Kanther bezeichnet die Castor-Gegner als „Kriminelle“
: Ehrenwerte Gesetzesbrecher

Natürlich tut es den Atomkraftgegnern weh, wenn ihre Aktivisten im Wendland als Gesetzesbrecher und Kriminelle bezeichnet werden. Aber sie müssen hinnehmen, daß beide Bezeichnungen zutreffend sind. Es handelt sich um Sachbeschädigung und Transportgefährdung, wenn Schienen durchsägt und Schwellen verbrannt werden – um Gesetzesbruch also, like it or not. Und Leute, die Gesetze brechen, sind nun einmal Kriminelle.

Die soziale Abwertung, die in dem Begriff liegt, teilen die Atomkraftgegner allerdings nicht, sondern achten diejenigen, die die Sauberkeit ihres Strafregisterauszugs riskieren, um so höher; wissen sie doch, daß die Gesetzesbrecher um des Rechtsguts „Leben“ willen handeln und – ob sie Erfolg haben oder nicht – in dem großen Buch der Geschichte einmal eine Eintragung mit einem Sternchen bekommen werden.

Aber wer will von Innenminister Kanther, der sie als „Kriminelle“ bezeichnet, etwas anderes verlangen? Die moralisch abweichende Bewertung müssen die Sympathisanten selbst aufbringen. Sie können nicht vom Staat erwarten, daß er seine Regeln auflöst, wenn es um die „gute Sache“ geht. Sie wollen ja auch nicht, daß Rechtsradikale ihren politischen Willen durch Straftaten zum Ausdruck bringen. Die Hürde der Strafbarkeit bedeutet einen Schutz vor der „action directe“, den sie in anderen Fällen gern in Anspruch nehmen.

Man kann die Frage der Strafbarkeit von Handlungen nicht davon abhängig machen, ob man mit den Zielen der Täter sympathisiert oder nicht. Der Überzeugungstäter kennt das Risiko der Bestrafung und handelt trotzdem. Dadurch wird seine Handlung, wenn sie der „guten Sache“ tatsächlich dient, ehrenwert und hebt sich von der normalen Kriminalität ab.

Vom Staat aber eine Anerkennung des zivilen Ungehorsams zu fordern, ist Unsinn im wahrsten Sinne des Wortes. Erlaubter ziviler Ungehorsam ist paradox. Es handelte sich sonst um Anarchie. Also: Drücken wir unseren Brüdern und Schwestern im Wendland die Daumen, daß sie nicht erwischt werden, helfen wir ihnen juristisch und moralisch, wenn es doch passieren sollte, aber stellen wir uns nicht beleidigt, wenn sie als das bezeichnet werden, was sie sind und sein wollen: Gesetzesbrecher. Sibylle Tönnies

Hochschulprofessorin an der Fachhochschule Bremen