„Rotgraue Jahre sind verlorene Jahre“

■ Beißende Kritik an der Hamburger Senatspolitik: Der frisch wiedergewählte ÖTV-Boß Rolf Fritsch fordert im taz-Interview eine andere Müll-, Hafenerweiterungs- und Tarifpolitik

taz: 1991 noch per Kampfabstimmung als Erneuerer zum Bezirkschef gekürt, jetzt mit satten 90 Prozent wiedergewählt: Ein Dankeschön für erfolgreiche Reformen oder Ausdruck der Erleichterung, daß sich nicht soviel getan hat?

Rolf Fritsch: Eine schwere Frage. Die Euphorie von 1991 ist sicherlich abgebröckelt. Wir haben damals die Fülle der Probleme, die uns überschütten würden, nicht gesehen. Vor allem die desolate Lage der öffentlichen Haushalte, dazu die Standortprobleme Deutschlands, die sich in unserer buntgefächerten Organisation widerspiegeln wie in kaum einer anderen Gewerkschaft. Das zwingt zu Kompromissen, die wir manchmal nur zähneknirschend eingehen. Oft strapazieren sie auch das Verständnis unserer Mitglieder.

Ein Aufbruch wenigstens innerhalb der ÖTV?

Wir haben eine ganz neue Streitkultur. Wir diskutieren offen, die Flügel fallen nicht mehr übereinander her. Und – wir haben unsere Finanzen geordnet, die Rücklagen verdreifacht. Heute ist unser Bezirk finanziell der zweitstärkste innerhalb der Republik. Was schmerzt: Wir haben erheblich Personal reduzieren müssen – um fast 40 Prozent. Der Bezirk kann nicht selbst über seinen Stellenplan entscheiden. Da mußten wir uns beugen. Darunter leidet die Betreuungsarbeit.

Neue Streitkultur? Die wird nach außen kaum sichtbar.

Wir bemühen uns um eine Politik, die mit verkrusteten Strukturen sehr kritisch umgeht. Das ist ein mühsamer Prozeß, der sich außen noch nicht so zeigt und weit über meine Amtszeit hinausgeht. Wir müssen mit dem leben, was wir 1991 übernommen haben.

Eines ist Ihnen sicherlich gelungen: Der traditionelle Schulterschluß mit dem Rathaus ist Geschichte. Im Gegenteil: Das Verhältnis zwischen Senat und ÖTV ist zerrüttet.

Das muß nicht an uns liegen. Sofern uns abgefordert wird, der Wurmfortsatz des Senats zu sein – damit können und wollen wir nicht dienen. Gewöhnlich führt sich der Senat uns gegenüber ja auch nur als Arbeitgeber auf. Diese Distanz ist nicht zu überbrücken.

Zu Henning Voscherau haben Sie, vorsichtig formuliert, ein Null-Verhältnis.

Null-Verhältnis will ich nicht sagen. Henning Voscherau ist ja in keinem Politikfeld mein unmittelbarer Gesprächspartner. Da habe ich andere Adressaten. Soweit ich mit ihm – zugegeben selten – zusammenkomme, ist das Verhältnis sehr sachlich. Wir versuchen Standpunkte auszutauschen.

Warum diese Distanz? Sie stehen doch treu zu Voscheraus Essentials, siehe Altenwerder.

Unser Ja zu Elbvertiefung und Altenwerder ist an drei Voraussetzungen gebunden: ein stimmiges Finanzierungskonzept, neue, tarifgebundene Arbeitsplätze und einen Dialog mit der Wissenschaft über Notwendigkeit und Verlauf der einzelnen Schritte. Ich sehe unsere Essentials bislang nicht ausreichend berücksichtigt. Wir müssen in den nächsten Wochen unsere Beschlußfassung überprüfen. Im Augenblick führen wir da Diskussionen, auch mit der GAL. Ich laß mich aber nicht von der Verwaltungsgerichtsentscheidung beeindrucken. Mir geht es um die ökonomische Notwendigkeit. Und da gibt es Streit bei uns. Mal sehen, ob die alten Beschlüsse künftig noch tragen.

Das Urteil hat aber, zumal wenn es im Hauptverfahren bestätigt wird, massive Auswirkungen. Die bisherige Hafenentwicklungsstrategie wäre am Ende.

Die offenkundigen Planungsmängel sind in meinen Augen beschämend. Neuen Überlegungen sehe ich aber mit Interesse entgegen. Der Senat will jetzt selbst von Grund auf neu strategisch denken. Das begrüße ich. Es gibt Modelle, welche die ökonomischen Ziele auch auf vorhandenen Hafenflächen umsetzen wollen. Uns geht es um tarifgebundene Arbeitsplätze, da gab es in jüngster Zeit deutliche Differenzen. Wir sind auch hier nicht der Wurmfortsatz von Investitionsentscheidungen des Senats. Bei solch enormen Investitionen muß die Frage erlaubt sein, wieviel Arbeitsplätze geschaffen würden, wenn man diese Mittel alternativ einsetzt.

Muß eine moderne Gewerkschaft nicht mehr tun als Wünsche und Bedingungen formulieren? Muß sie nicht die Planungsrichtung aktiv mitgestalten?

Ich empfinde diesen Mangel. In einer so angespannten Lage wie jetzt werden aber 80 bis 90 Prozent unserer Arbeit gebraucht, um die Arbeitnehmer zu schützen. Für den gestalterischen Teil bleibt nur wenig Zeit.

Beispiel Stadtbahn: Seit Jahren stehen große Investitionen und neue Arbeitsplätze zur Entscheidung – die ÖTV schweigt stille.

Ich bedaure das, auch weil das Thema bei der Bevölkerung einen ganz großen Stellenwert hat. Wir haben die unterschiedlichen Interessen – bei der Hochbahn, im Luftverkehr, im Güterverkehr – bisher nicht unter einen Hut gebracht. Konsequente Aussagen fehlen. Ein eklatanter Mangel – das muß ich bekennen. Ich will auch nicht drüber wegreden: Das ist eine zentrale Aufgabe für die nächsten Monate. Wir haben den festen Willen, diese Leerstelle zu füllen.

Besitzstandsdenken blockiert neue Ansätze.

Die Arbeitnehmer sind derzeit gebeutelt. Da haben sie wenig Lust, zu neuen Ufern aufzubrechen. Das ist aus ihrer Sicht verständlich. Aus politischer Sicht find ich es eher gefährlich. Wir müssen Neues wagen, dürfen die Krise nicht nur verwalten. Dann werden wir scheitern. Ich bedaure, daß gerade in Hamburg neue Ansätze, ob bei der Verwaltungsreform oder der Verkehrspolitik, so unverhältnismäßig lange Zeit brauchen. Die ÖTV ist da offensichtlich keine Ausnahme. Ich bin aber guten Mutes, daß hier bald etwas passiert – zumindest bei uns. Wir müssen anspruchsvoll gegenüber uns selbst sein und risikobereit in unseren Anforderungen an die Politik.

Fordern Sie doch mal Müllvermeidungsarbeitsplätze: Hamburg steckt die Müllgebühren in kapitalintensive Müllverbrennungsanlagen. Statt in Öfen könnte in Arbeitsplätze investiert werden.

Genau das ist unsere Linie. Daß der Umweltsenator die Müllverbrennungskapazitäten so breit auslegt, sehen wir mit erheblichem Unbehagen. Ebenso, daß er dort private, gewinnwirtschaftlich orientierte Unternehmen etabliert. Wenn man Müllverbrennung so führt, schreit das nach Auslastung von Kapazitäten – und im Extremfall nach Müllimport. Unsere Kritik bringen wir da an, wo wir gefordert sind – zum Beispiel im Aufsichtsrat. Die Politik des Umweltsenators ist eine andere. Er hat ja erkennbar eine Neigung zu solchen Abfallbehandlungstechniken – die kann man ihm offensichtlich nicht ausreden.

Sie sind bislang für eine rot-grüne Reformpolitik eingetreten – halten Sie daran fest?

Aber ja! Es gibt überhaupt keine Alternative dazu. Politisch besonders spannend finde ich den kommenden Bürgerschaftswahlkampf. Die ÖTV wird natürlich ihre Stimme erheben. Die rot-graue Koalition war nun wirklich nicht der große Wurf, eher schon Stillstand und mangelhafte Durchdringung der Probleme. Es waren verlorene Jahre. Bei allen Problemen, die natürlich auch ein rot-grünes Bündnis hat – eine bessere, vorwärtsweisende Politik hätte längst zustande kommen können. Rotgrau war eine falsche politische Weichenstellung. Die gehört korrigiert.

Zum Schluß: Ihr größtes politisches Ziel?

Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre sollten die Wahrheit sagen, offen und ehrlich sagen, wie die Situation ist. Der Bürger ist viel mündiger, als Funktionäre glauben. Er hat ein viel höheres Einsehen in die Probleme und eine viel höhere Bereitschaft, auf die Probleme zu reagieren. Wenn wir uns hier nicht ändern, dann werden wir scheitern mit Gewerkschaftspolitik, mit Parteipolitik – das ist ein Punkt, der alles andere überlagert.

Fragen: Florian Marten