Das No-name-Element

Darmstädter Forschern wird das Recht des Entdeckers auf die Namengebung verwehrt  ■ Von Stefan Albus

Henning Brand hatte ein eigenartiges Hobby: Er sammelte Urin. Als er „etwa eine tonne“ zusammen hatte, ließ er ihn eine Zeitlang stehen, kochte ihn ab, bis er „beginnet, dick zu werden“, und destillierte daraus ein „oleum urinae“, mit dem er noch eine Reihe wunderlicher Dinge mehr anstellte. Aber das Ganze hatte einen Sinn: Brand war „doctor medizinae und Chymist“, und am Ende seiner Bemühungen stand ein Material, das aussah wie „Börnstein“ und im Dunkeln geheimnisvoll leuchtete. Wegen dieser Eigenschaften wurde es „phosphorus“ – Lichtträger – genannt. Brand hatte ein neues Element entdeckt.

Heute geht man etwas eleganter vor. Die Erzeugung neuer Elemente ist aus den Labors der Chemiker in die Hände von Physikern übergegangen. Nicht mehr das mißtrauische Beäugen von Reagenzgläsern in abenteuerlich ausgestatteten Labors, sondern das nüchterne Interpretieren von Meßergebnissen in Computerzentralen, die aussehen wie die Brücke des Raumschiffes Enterprise führt heute zur Entdeckung neuer Elemente. Weltweit führend auf diesem exklusiven Gebiet der modernen Grundlagenforschung ist die in Darmstadt ansässige Gesellschaft für Schwerionenforschung, (GSI), die unlängst mit der Entdeckung des Elements 112 ihrer Konkurrenz davongespurtet ist. In einem Teilchenbeschleuniger werden dazu Zinkatome auf eine Zielscheibe aus Blei geschossen. Manchmal bleiben zwei Atomkerne ineinander stecken – das neue Element ist geboren. Der Aufwand, der getrieben werden muß, um die wenigen Tröpfchen der neuen Kernmaterie aus dem Regen von bis zu drei Billionen anderer Teilchen pro Sekunde herauszufiltern, ist allerdings erheblich. Viel Mühe also, um als erster ein bisher unbekanntes Element in den Händen zu halten, zumal die Motivation, die Henning Brand vor rund dreihundert Jahren angetrieben hat, den Stein der Weisen zu finden, heute wohl wegfällt.

Jetzt aber droht Trouble. Die neuen Elemente mit den Ordnungszahlen 107, 108 und 109, die zuvor schon am GSI entdeckt worden waren, sollten nach dem Willen der Forschergruppe Nielbohrium, Hassium (nach dem Bundesland Hessen) und Meitnerium genannt werden. Namen von berühmten ForscherInnen, wie etwa der von Lise Meitner, werden gerne zur Taufe neuer Elemente herangezogen. Die Einbeziehung von Ortsnamen ist ebenfalls nicht selten. Der bei Stockholm liegende Ort Ytterby ist in gleich vier Elementen verewigt: Yttrium, Ytterbium, Terbium und Erbium. Die Vorschläge aus Darmstadt wurden jedoch von einem Unterausschuß der mächtigen, für Nomenklaturfragen zuständigen Organisation International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC) zugunsten von Bohrium, was ja noch in Ordnung wäre, und – was weitaus schlimmer ist – Hahnium anstelle von Hassium abgebügelt. Das paßt den Darmstädter Schwerionenforschern gar nicht. Günther Siegert vom GSI: „Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit ihrem neugeborenen Sohn Klaus zum Standesbeamten, und der sagt: ,Nein, der heißt von jetzt an Martin.‘“

Eines ist nämlich über die Jahrhunderte gleich geblieben. Die neuen Geschöpfe brauchen Namen. In alten Zeiten war diese Angelegenheit einfach: Elemente wurden benannt nach besonderen Eigenschaften oder mythischen Figuren, wie zum Beispiel das Kobalt, dessen Namen daher rührt, daß kobalthaltige Erze beim Verhütten einen unangenehmen Geruch verströmten, den man flugs den bösen Erdgeistern, den Kobolden, zuschrieb.

Während für chemische Verbindungen schon relativ früh allgemeinverbindliche Regeln zur Benennung aufgestellt wurden, gebührte im Falle des Auffindens eines neuen Elements immer den Entdecker die Ehre, seinen Fund zu taufen. Ähnlich wird es auch bei den Biologen oder Astronomen gehalten, denen wegen der Vielzahl der Objekte ihres Forschungsgegenstandes zum Teil schon die originellen Namen ausgehen. Sterngucker haben neuentdeckte Winzplaneten im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter in Ermangelung der üblichen Götternamen auch schon mal nach ihrer Freundin benannt.

Irrungen und Wirrungen um Namen hat es aber auch in der Vergangenheit immer mal wieder gegeben. Bis Mitte dieses Jahrhunderts gab es im Periodensystem der Elemente noch einige Lücken, um deren Schließung sich mehrere Arbeitsgruppen bemühten. Der Geochemiker Walter Noddack glaubte beispielsweise 1925 in uranhaltigen Erzen ein neues Metall nachgewiesen zu haben, das er Masurium taufte. Leider konnte er seine Vermutung nicht durch Proben des neuen Materials untermauern; dieses gelang erst zwölf Jahre danach dem späteren Nobelpreisträger Emilio Gino Segré, der seinem Fund den heute noch gültigen Namen Technetium gab. Technetium wurde in den Jahren zuvor schon mehrfach vermeintlich entdeckt und sollte auch schon Davyum, Lucium und sogar Nipponium heißen. Das Schwermetall Hafnium, ein anderer Fall, war auch nicht einfach zu finden. 1911 wurde es vermeintlich in Seltenerderzen nachgewiesen und hätte Celtium geheißen, wenn es nicht elf Jahre später im Laboratorium von Niels Bohr noch einmal, diesmal aber nachprüfbar, entdeckt worden wäre. Die wahren Finder benannten das Element dann nach dem Ort der Entdeckung: Hafnium sagen die Lateiner, wenn sie Kopenhagen meinen.

Bisher waren also immer Irrtümer oder unvollständige Analysedaten der Grund für diese Wechselspiele. Deshalb sehen sich die Darmstädter Forscher ungerecht behandelt, weil an ihren Funden kein Zweifel herrschen kann. Bis auf weiteres wird jetzt am GSI geschmollt, und das neue Element 112 wird daher zunächst keinen Namen erhalten.

Zu Zeiten von Henning Brand wäre ein Neugeborenes ohne Taufe nicht ins Paradies gekommen. Das neue Element 112 hat eine Lebensdauer von nur wenigen Mikrosekunden, aber eine Taufe ist derzeit nicht in Sicht. Der Unterausschuß am IUPAC hat seine Entscheidung jetzt erst einmal für zwei Jahre zurückgestellt. Zeit also für eine Nottaufe. Die IUPAC hat für solche Fälle systematische Namen vorgesehen, hier Unundium. Aber, so Siegert vom GSI: „Diese Namen gebraucht doch niemand. Die können Sie vergessen.“