Therapie und Suche nach Wahrheit

Mord, Folter, Mißhandlungen – was Opfer und Angehörige vor der südafrikanischen Wahrheitskommission über die Praktiken des Apartheitstaates berichten, ist ein Potpourri des Grauens  ■ Aus East London Kordula Doerfler

Sie möchte gern stark sein, doch immer wieder kippt ihr die Stimme weg. Sie will reden, zwanghaft fast, doch immer wieder wird sie von Schluchzern geschüttelt, schaut sie hilfesuchend nach vorn. Babalwa Mhalwuli ist erst 19. Sie ist schick gestylt, die Haare hat sie künstlich geglättet und schrill gelbblond gefärbt, auf den ersten Blick eine typische, selbstbewußte schwarze Südafrikanerin. Doch jetzt, während ihrer Aussage vor der Wahrheitskommission, ist sie nur noch ein Häufchen Elend, das mühsam um Fassung ringt, ist sie wieder das traumatisierte achtjährige Mädchen, dessen Vater grausam von der Sicherheitspolizei umgebracht wurde.

Babalwas Vater war Sicelo Mhlawuli, ein Lehrer. Er war eng befreundet mit dem bekannten Oppositionellen Mathew Goniwe und aktiv in der Befreiungsbewegung „Vereinigte Demokratische Front“. In den 80er Jahren lebte die Familie in Oudtshoorn in der Halbwüste Karoo, jede Ferien fuhren sie jedoch nach Hause, nach Cradock in der heutigen Provinz Eastern Cape. An einem Winterabend im Juni 1985 traf sich Mhlawuli dort mit Goniwe und zwei anderen Aktivisten, Sparrow Mkhonto und Fort Calata. Die vier Männer wollten zu einem politischen Treffen in der Hafenstadt Port Elizabeth. Sie kamen nie zurück. Am 27. Juni wurden sie von Mitgliedern der Sicherheitskräfte ermordet. Ob es sich dabei um die berüchtigte Sicherheitspolizei oder die Armee handelte, konnten auch mehrere juristische Untersuchungen später nicht aufklären.

Die Leichen der „Cradock- Vier“ wurden wenige Tage später verstümmelt und mit allen Spuren von brutaler Folter aufgefunden. Die Mutter von Babalwa hat vor der Tochter beschrieben, wie sie ihren Mann identifizieren mußte. „Er hatte Wunden am ganzen Körper von unterschiedlichen Waffen, in sein Gesicht war Säure geschüttet worden.“ Nombwyselo Mhlawuli weint unkontrollierbar, durch den kolonialen Stadtsaal der City Hall von East London, der bis auf den letzten Platz besetzt ist, geht ein Aufseufzen des Entsetzens. Doch Nombwyselo Mhlawuli ist noch nicht am Ende. „Die rechte Hand war abgeschnitten, und wir mußten ihn so begraben.“ Neben dem alltäglichen Terror während der Apartheid-Zeit, neben dem Verlust ihrer Söhne und Ehemänner war das das Schlimmste für die Hinterbliebenen: wenn sie die Leichen gar nicht oder zerstückelt zurückbekamen. In afrikanischen Kulturen heißt das, daß die Seele des Verstorbenen keine Ruhe finden kann. Immer wieder flehen Hinterbliebene während der Anhörungen darum, die Kommission möge ihnen doch helfen, die Toten zurückzubekommen, damit sie sie in Würde begraben können.

Suche nach den Tätern und nach der Hand des Toten

Nombwyselo Mhlawuli bittet die Kommission nicht nur, die Täter zu finden, sondern auch die rechte Hand ihres Mannes. Sie soll, so hat sie gehört, von der Sicherheitspolizei in einer Flasche aufbewahrt worden sein. Zwei Tage später bestätigt ein anderes Opfer, ein Mann, der selbst mehrmals gefoltert wurde, dieses Gerücht. „Sie zeigten mir während meiner Haft eine Flasche mit einer Flüssigkeit“, sagt Madoda Jacobs. „Sie roch. Darin sah ich eine Hand. Sie sagten, es sei die Hand eines dieser Paviane.“

Im Saal in East London herrscht fast tödliche Stille. Vor allem die Frauen unter den rund 400 Zuschauern wischen sich die Tränen ab, selbst auf den Pressebänken wird geweint, als die Tochter Babalwa ihre Aussage macht. „Ich will erzählen, was es für uns bedeutete, als mein Vater starb.“ Und sie erzählt, nach Worten ringend, von den kleinen, perfiden Schikanen des Apartheidstaates, die keineswegs aufhörten, nachdem ihr Vater ermordet worden war. Die Polizei kam mitten in der Nacht in ihr Haus und stellte es auf den Kopf. Dabei fiel ihr unter anderem ein Stapel von Kondolenzkarten aus aller Welt in die Hände. „Das sind die Karten eines toten Mannes“, lachte einer der Polizisten. Und er sagte: „Eines Tages wird die Wahrheit herauskommen.“ Das sei sehr ironisch, meint die 19jährige, denn jetzt hänge es von ihm ab, ob sie wirklich herauskomme. Bis sechs Uhr morgens blieb die Polizei, und ihr kleiner Bruder, damals drei Jahre alt, reagierte mit einem Trauma auf jeden Weißen, das bis heute nicht überwunden sei. „Er nannte sie nur noch Hunde.“ „Wir wollen vergeben, aber wie können wir das, wenn wir nicht wissen, wem? Wir sind immer noch verwirrt von dem, was damals passiert ist, und wir haben so sehr gelitten.“

Erzbischof Desmond Tutu, der Vorsitzende der Kommission, ringt ebenfalls um Worte, nachdem die kurze Erzählung beendet ist. „Wir sind stolz, daß es Menschen eures Kalibers in diesem Land gibt, Menschen mit unglaublicher Kraft“, sagt er zu den Hinterbliebenen. Das sagt er allen, die den Mut gefunden haben, sich dieser Art von Öffentlichkeit zu stellen – mit einer Ausnahme: Am Abend dieses zweiten Tages der Anhörungen, an dem die Emotionen so hochschlagen, bricht er selbst weinend zusammen, während ein Mann im Rollstuhl die grausamen Foltermethoden der Sicherheitspolizei schildert.

Spätestens an diesem zweiten Tag wird deutlich, daß die Anhörungen eine eigene Kraft entfalten. Für die Opfer und Hinterbliebenen ist es eine Mischung aus Therapie und einem letzten Versuch, die Wahrheit zu finden. Was vor der Kommission ausgebreitet wird, ist keineswegs neu, und doch hat die Macht des gesprochenen Wortes – meist in Xhosa – und das immer noch so deutlich sichtbare Leiden der Opfer und Hinterbliebenen auf die Zuhörer eine ungeheure Wirkung. Entfaltet wird dabei ein oft verworrenes, sehr persönliches und dabei um so authentischeres Panoptikum der Grausamkeiten während der Apartheid-Zeit.

In der Mehrzahl sind es Frauen, die an dem leicht erhöhten Tisch gegenüber der Kommission sitzen, Frauen jeden Alters, deren Söhne und Männer verschwunden sind und deren ohnehin armselige Existenzen zerstört wurden. Es überwiegen die Fälle derer, die Opfer der besonders brutalen Polizei in der heutigen Provinz Eastern Cape wurden, die spurlos verschwanden in den Folterzellen, die monatelang in Haft waren, ohne einem Richter vorgeführt werden zu müssen, da sie als Kommunisten und Staatsfeinde galten.

Dann gibt es die Opfer der nicht minder brutalen und vollkommen korrupten Sicherheitskräfte der ehemaligen Homelands Ciskei und Transkei. Aber dann gibt es auch die Grausamkeiten der anderen Seite. Drei Weiße sagen in diesen ersten Tagen aus, die zufällig und nur wegen ihrer Hautfarbe Opfer von Massakern seitens der „Azanischen Volksbefreiungsarmee“ (Apla) wurden. Alle drei verkörpern das weiße Südafrika, nicht unbedingt das rassistische. Sie können es bis heute nicht fassen, daß es gerade sie getroffen hat.

Beth Savage und Bob Standford etwa, beide Opfer eines Anschlags auf einen weißen Golfklub in King Williams' Town im Jahr 1992, bei dem vier Menschen getötet wurden. Beth Savage, die heute noch so viele Munitionssplitter im Leib hat, „daß es am Flughafen immer klingelt“, rettet sich in die Religion. „Es liegt in der Hand Gottes, was mit den Tätern passiert. Was immer geschehen soll, muß geschehen.“ Stanford, vor dem Attentat ein erfolgreicher Anwalt, ist schwerbehindert und noch heute zutiefst traumatisiert; seinen Beruf mußte er aufgeben. „Vielleicht waren sie in die Irre geleitet. Vielleicht bereuen sie, was sie taten, so wie ich es von unserer Seite aus bereue. Vergebung muß von beiden Seiten kommen, wenn wir ein neues Südafrika haben wollen“, sagt Stanford, um Fassung ringend. Die Gesichter der überwiegend schwarzen Zuhörer im Saal sind während ihrer Aussagen jedoch verschlossen.

Und dann gibt es noch eine Gruppe von Fällen: die jugendlichen Freiheitskämpfer, die vermutlich in irgendwelchen Camps des ANC im Exil verschwunden sind. Bewiesen ist nichts, aber die Verdachtsmomente wiegen schwer, und bei zwei Müttern von Verschwundenen kommt viel Bitterkeit zum Vorschein. Bitterkeit darüber, von der eigenen Bewegung verraten worden zu sein, Bitterkeit darüber, daß Chris Hani in seiner Funktion als Chef des militärischen Flügels des ANC, „Umkhonto we Sizwe“, es nie für nötig befunden hat, offiziell zu den Nachfragen der Mütter Stellung zu beziehen.

Von Rache ist keine Rede – nur wissen, wer es war

Während all diese Geschichten unter Tränen, mit Wut und ganz selten einmal mit aufblitzendem Humor erzählt werden, zeigen auch die Kommissionsmitglieder Anzeichen von Erschöpfung. Ihre Aufgabe ist nicht klar umrissen, das wird vor allem am ersten Tag deutlich. Die Eröffnung trägt die überdeutliche Handschrift Tutus, und es steht zu befürchten, daß hier eine einjährige Messe zelebriert wird. Doch das ändert sich. In der Kommission sitzen auch erfahrene Anwälte, die dann die Fragen stellen und versuchen, den unkontrollierten Redefluß der Opfer etwas zu strukturieren. Der Zwiespalt, in dem sie dabei sind, wird immer wieder sichtbar, denn Tutu hat anfangs klargemacht, daß das Verfahren nicht dem in einem Gerichtssaal ähneln soll. Und trotzdem muß es das, denn schließlich soll hier nicht nur Versöhnung, sondern ganz nebenbei auch nach der Wahrheit gesucht werden. Heraus kommt dabei eine eigentümliche Mischung aus Gruppentherapie, Gerichtsverhandlung und Messe. Von Rache ist dabei nie die Rede, sondern nur von dem lebenswichtigen Wunsch, zu wissen, wer die Täter waren.