Sounds of Silence Von Mathias Bröckers

Eine Untersuchung der Stadt Amsterdam über die Lärmbelästigung der Bevölkerung ergab, daß sich 29 Prozent von lauten Nachbarn gestört fühlen, 28 Prozent sind regelmäßig Straßenverkehrslärm ausgesetzt, 26 Prozent fühlen sich von Flugzeugen genervt. In anderen dichtbesiedelten Industriestaaten dürfte die Belästigung durch „Lärmverschmutzung“ ähnlich hoch liegen – und schon das seltsame Wort zeigt, daß wir uns, anders als bei anderen Umweltverschmutzungen, von der akustischen Kontamination noch gar keinen rechten Begriff machen.

So hat denn auch kaum jemand registriert, daß seit gut 20 Jahren ein neues Gespenst durch Europa schleicht. Überall macht es sich breit, und nicht einmal an explizit stillen Örtchen sind die Opfer vor ihm sicher. Die Rede ist vom Gedudel, jener unausweichlichen musikalischen Berieselung, die mittlerweile zur Grundausstattung der Zivilisation gehört. Vom Einkaufszentrum bis zur Aufzugskabine, vom Luxusrestaurant bis zur Pommesbude, von der Wartehalle bis zum Zahnarztstuhl – es gibt keinen Ort mehr, an dem der Gehörgang mit Verschonung rechnen könnte.

Sprinkleranlagen zur akustischen Kontamination zählen in Gewerberäumen zum Neubaustandard, und wo nicht industriell auf Kauflaune getrimmtes Spezialgedudel eingesetzt wird, da rieselt der Dudelfunk aus allen Radiokanälen.

Zwar herrscht in immer mehr öffentlichen Räumen mittlerweile Rauchverbot, um die Lungen Unbeteiligter zu schonen, die Ohren freilich werden dafür um so hemmungsloser traktiert. Während Nichtraucher allenthalben auf Schonung rechnen dürfen, stoßen Nichthörer auf ein Meer der Ignoranz. Ja, es gibt sie offiziell nicht einmal, die Nichthörer, weder als Begriff noch als Lobby oder gar als militante Initiative – ob im Café, im Flugzeug oder in der Kantine, mit Nichthörerplätzen oder dudelfreien Zonen darf nicht gerechnet werden.

Daß es noch keine Bürgerinitiative für aktiven Nichthörerschutz oder „Earpeace“-Gruppen gegen den Akustikterror gibt, ist eigentlich ein Wunder – das Problem, daß in dieser Gesellschaft der Gedudelfaden einfach kein Ende hat, wird zunehmend brisant. Gordon Hempton, ein Künstler, der sich auf Aufnahmen natürlicher Geräusche spezialisiert hat, will dagegen jetzt angehen. Für ihn ist die Erde eine „solargetriebene Jukebox“, ein musikalischer Planet, dessen Töne allerdings zu bedrohten Arten geworden sind. Hempton will deshalb akustische Schutzreservate errichten, wo keinerlei menschenproduzierter Lärm erlaubt ist. Die ersten sollen im Rahmen von Hemptons „One Square Inch“-Projekt in zehn Nationalparks der USA entstehen: zehn 6,5 Quadratzentimeter große Zonen, an die kein unnatürlicher Laut vordringt.

Ob die US-Behörden zustimmen, ist noch offen – im Zeitalter des Gedudels scheint der Plan des Anti-Lärm-Konservators hoffnungslos naiv und idealistisch. Bleibt er aber erfolglos, werden die letzten sounds of silence bald völlig ausgestorben sein – und unseren Enkeln nur akustische Zoos bleiben, wo sie das unverfälschte Quaken eines Froschs, das Rauschen eines Wasserfalls oder einfach die Töne genießen können, die der Dichter beschrieb: „Über allen Wipfeln ist Ruh...“