Ohne Alpträume weiterleben

Im Pariser „Primo Levi Zentrum“ behandeln Ärzte und Psychotherapeuten Patienten, die an den Spätfolgen der Folter leiden  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Wenn er die Grippe hat, geht er zum Allgemeinmediziner, wo er sich eine Krankschreibung holt wie andere Leute auch. Aber wenn ihn der Rücken schmerzt, sucht der junge kurdische Flüchtling Hilfe beim „Primo Levi Zentrum“. Dort findet er die Experten, mit denen er über die Folter sprechen kann, die er vor Jahren in türkischer Polizeihaft erlitten hat.

In der Altbauwohnung im 11. Pariser Arrondissement behandeln Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter und Krankengymnasten gemeinsam die Spätfolgen der Folter. Eine von ihnen ist „Ethnopsychiatrin“, die anderen haben sich im Lauf der Zeit eingearbeitet. Ihre Patienten stammen aus allen Kontinenten. Die Symptome reichen von gebrochenen Knochen über Magengeschwüre bis hin zu chronischer Schlaflosigkeit und anderen unsichtbaren Leiden. Manche haben nie zuvor über die Qualen gesprochen, obwohl sie oft schon lange zurückliegen.

„Folter kann man nicht vergessen“, sagt die Ärztin Nathalie Montbet, die über ihre Mitarbeit bei amnesty international zum Zentrum gekommen ist. „Aber man kann damit leben – ohne Alpträume, Schlaflosigkeit und Tränen.“ Ganz behutsam tastet sie sich bei neuen Patienten vor. „Hände waren für viele Folterinstrumente, Berührungen bedeuteten Schrecken, und Entkleiden erinnert manche an Vergewaltigungen“, erklärt die Ärztin.

In ihrem kleinen Behandlungszimmer mit Teppichboden, Tapeten in einem warmen Gelbton und Kinderzeichnungen an der Wand deutet nur ein Blutdruckgerät und der Untersuchungsstuhl hinter der spanischen Wand auf medizinische Arbeit hin. Statt den Körper der Patienten abzuklopfen, spricht die Ärztin am Anfang lange mit ihnen. Um das erste Leid zu lindern, verschreibt sie manchmal Schlafmittel. Das langfristige Ziel der Ärztin ist es jedoch, ihre Patienten von der Notwendigkeit einer Psychotherapie zu überzeugen, „denn sonst bleibt die Zerbrechlichkeit ein Leben lang bestehen“.

Manche kommen erst viele Jahre, nachdem sie die Folter erlitten haben, darunter heute noch Opfer längst abgetretener südamerikanischer Militärregimes. Je mehr Zeit vergangen ist, desto tiefsitzender sind ihre psychischen Symptome. In den ersten Jahren nach der Folter hatten sie andere Prioritäten. Sie mußten einen Asylantrag stellen, die neue Sprache lernen, Arbeit finden, eine Familie gründen. Doch ihre Probleme blieben: Angstzustände, Konzentrationsstörungen und Alpträume, die viele gar nicht mit der Folter in Verbindung brachten. „Allgemeinmediziner, die in ihrer Praxis mit diesen Symptomen konfrontiert sind, kommen nicht zwangsläufig darauf, daß es sich um Folterfolgen handelt“, weiß Montbet. Oft sind es Zufälle wie Fernsehberichte, die Patienten ins „Primo Levi Zentrum“ führen.

Fünf regierungsunabhängige Organisationen – amnesty international, Médecins du Monde, Christen für die Abschaffung der Folter (ACAT), Juristen ohne Grenzen und die Pflegepersonalgruppe „Trêve“ – haben das Zentrum im Mai vergangenen Jahres eröffnet. Der Namensgeber Primo Levi hatte in mehreren Büchern über die im KZ erlittene Folter geschrieben, bevor er sich 1987 das Leben nahm. Eine Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen, auch das Ausstellen von Attesten für Asylverfahren in Frankreich lehnt das „Primo Levi Zentrum“ ab. „Wir haben eine pflegende, helfende Rolle, das ist etwas grundsätzlich anderes“, erklärt Montbet. Die Finanzen für das Zentrum mit Vereinsstatut kommen aus Spenden, aus einem Hilfsfonds der UNO und zu einem kleinen Teil von der französischen Regierung. In diesem Jahr hofft das Zentrum zusätzlich auf Gelder aus der Europäischen Union. Die Patienten zahlen grundsätzlich nichts für die Behandlung.

Am langwierigsten ist die psychotherapeutische Behandlung, die oft über ein Jahr dauert. Manche Patienten können sie zudem nur schwer akzeptieren. Sie befürchten eine Stigmatisierung als „Verrückte“, erklärt die Ärztin. „Zugleich wissen sie, daß die Folter ihre Persönlichkeit verändert hat. Viele sind aggressiv und gewalttätig geworden.“ Der junge kurdische Flüchtling beispielsweise war vor jenen fünf Tagen in türkischer Polizeihaft, in denen er unter anderem mit Schlägen auf den Rücken traktiert wurde, ein kontaktfreudiger Mensch. Heute fällt es ihm schwer, Freundschaften zu schließen. Manchmal explodiert er aus nichtigem Anlaß. Neulich hätte er beinahe einen Mann verprügelt, bloß weil der in einer geselligen Runde zur Gitarre griff.