Warten auf das große Buch

Zum 10. Jahrestag von Tschernobyl sind viele kleine Bücher erschienen. Es fehlt aber immer noch eine seriöse Bestandsaufnahme der Folgen dieser Menschheitskatastrophe. Dies meint  ■ Manfred Kriener

Die größte Katastrophe der Industriegeschichte liegt noch immer weitgehend im dunkeln. Auch im Jahre zehn der Reaktorexplosion von Tschernobyl existiert kein klares Bild von den Folgen. Es gibt keine seriöse Zahl der Toten. Und auch die Zahlen der Strahlenkranken, der Krebsfälle, der Evakuierten, der als Liquidatoren und Nothelfer eingesetzen Menschen, der freigesetzten Menge an Radioaktivität, der materiellen Schäden usw. weichen erheblich voneinander ab. Je mehr Bücher und Berichte man liest, desto austauschbarer erscheint die Quellenlage.

Sind es 31 Tote, wie hartgesottene Atomfreunde noch heute frech behaupten, oder 1.800 Tote, die allein unter ukrainischen Liquidatoren gezählt worden sein sollen? Oder sind es gar noch mehr? 10.000 Tote werden mit Hinweis auf das ukrainische Gesundheitsministerium immer wieder genannt. Auch von 125.000 Toten „allein in der Ukraine“ ist die Rede. In einem der neuen Tschernobyl-Bücher – es ist nicht das schlechteste – heißt es sogar, das Ausmaß der Katastrophe sei, verglichen „mit Hiroshima und Nagasaki, schon jetzt erheblich höher“. Das wären mehr als eine Viertelmillion Opfer.

Die Person, die dies schreibt, zählt nicht zur Fraktion paranoider Atomkämpfer, sondern ist Vizepräsidentin der Deutschen Unesco-Kommission, die Bundestagsabgeordnete Erika Schuchhardt („Die Stimmen der Kinder von Tschernobyl“).

Alexander Kluge („Die Wächter des Sarkophags“) hat den zerborstenen Reaktor zu einem „herrenlosen Objekt der Menschheit“ erklärt, der wie die großen Pyramiden fest „zu unserem Planeten gehört“: „Ähnlich wie diese wird der Sarkophag auf viele tausend Jahre dort stehen. Die Wächter des Sarkophags sind insofern wir selbst.“

Wenn „wir“ die Wächter des Sarkophags sind und die Katastrophe als ein Unglück der ganzen Menschheit begreifen, dann kann daraus nur eine Konsequenz folgen: Die Weltgemeinschaft muß die verheerenden Folgen dieser Katastrophe endlich seriös aufarbeiten – ohne den Einfluß der Internationalen Atomenergieagentur. Es kann nicht angehen, daß dieses Jahrhundertereignis, dessen Hinterlassenschaft noch in 20.000 Jahren strahlen wird – das Römische Reich ging vor 2.000 Jahren unter, die letzte Eiszeit endete vor 10.000 Jahren –, im postkommunistischen Sumpf aus Schlendrian, Mangelwirtschaft und Ignoranz untergeht.

Die großen Katastrophen der Welt verlangen Aufklärung. Dies ist man den Opfern schuldig und dem kollektiven Gedächtnis der Zivilisation. Die Aufklärung ist um so dringlicher, als wichtige Daten möglicherweise verlorengehen. Die meisten Krebserkrankungen werden erst in den kommenden Jahren ausbrechen. Sie drohen im natürlichen Rauschen oder im allgemeinen Katastrophengeschrei unterzugehen.

Solange das große, epochale Tschernobyl-Buch, ein internationaler Report unabhängiger Wissenschaftler, noch nicht geschrieben ist, müssen wir die vielen kleinen Bücher lesen, die jetzt zum Jahrestag erschienen sind. Das eindrucksvollste von ihnen ist – trotz der eklatanten handwerklichen Mängel und teilweise verwirrenden Präsentation – Alexander Kluges Dokumentation seiner Fernsehinterviews. Sein Gespräch mit dem Fotografen Igor Kostin ist ungeheuer. Man streicht beim Lesen so viel an, daß ganze Seiten schwarz glänzen. Kostin und Kluge sitzen vor den Tschernobyl-Fotos des Novosty-Reporters, und der Fotograf erläutert die Situationen, in denen die Bilder entstanden sind. Kostin war schon wenige Stunden nach der Explosion vor Ort und hat seitdem unzählige Male in den heißen und tödlichen Zonen fotografiert. Daß er heute noch lebt, ist eine Wunder. Seine Bilder sind das andere. Die Kameras mußten mit einem speziell angefertigten Bleikasten geschützt werden.

Das Buch enthält weitere, in typischer Kluge-Manier geführte Interviews mit der Ingenieurin Oxana Pentak, die in Tschernobyl arbeitete, und mit der Journalistin Swetlana Alexejewitsch über die „verbotene Zone“. Beides eindrucksvolle Gespräche. Dazwischen etliche Interviewschnipsel, die chaotisch aneinandermontiert sind. Schade.

Die beiden Frankfurter Journalisten Karl-Heinz Karisch und Joachim Wille („Der Tschernobyl- Schock“) haben sich ans bewährte Rezept gehalten. Man nehme ein Dutzend guter Autoren, serviere das Tschernobyl-Thema in kleinen Häppchen und erhalte pünktlich zum Jahrestag einen sauberen journalistischen Reader mit viel Information. Zu den Autoren gehört neben Klaus Traube auch taz- Autor Gerd Rosenkranz. Herausragend in diesem schnörkellosen Informationsband, der nicht furchtbar viel Neues enthält, aber eine gute Zusammenfassung liefert, ist Karischs spannungsgeladenes Protokoll der Katastrophennacht. Der Autor verdichtet alle bekannten Einzelheiten zu einem echten Atomkrimi. Mit unglaublichen Details: Wer weiß denn schon, daß die Sandsäcke, die vom Hubschrauber aus in die strahlende Hölle fielen, aus jenem roten Fahnenstoff eilig zusammengenäht wurden, der für die Maiparade bereitgelegen hatte?

Erika Schuchhardt und Lew Kopelew (der als Mitherausgeber seinen guten Namen spendiert) kümmern sich um die Kinder von Tschernobyl. 70.000 von ihnen waren bisher zur Erholung in Deutschland. Schuchhardt hat Kinder, Eltern und Gastfamilien interviewt. Sie kämpft mit diesen Interviews leidenschaftlich gegen die These vom „Kulturschock“. Diese besagt, daß die Deutschland-Kur mehr schade als nütze, weil die Kinder von den paradiesischen Eindrücken hierzulande so überwältigt seien, daß sie zu Hause im weißrussischen Elend in schwere Depressionen versänken.

Die These wird widerlegt. Zugleich schildert die Autorin mit anrührender Naivität und nicht ohne Pathos die Situation in den verstrahlten Dörfern. Das Buch sprüht vor persönlichem Engagement. Leider erfahren wir nichts über den heftigen Streit unten den Tschernobyl-Hilfsgruppen und den Vorwurf, daß oft die falschen Kinder verschickt werden.

Das dickste Informationspaket kommt von drei Journalisten des Hessischen Rundfunks. Franke, Schreiber, Vinzens („Verstrahlt, vergiftet, vergessen“) müssen ganze Wagenladungen an Material gesichtet haben. Unzählige Gespräche mit Tschernobyl-Opfern und ihren Angehörigen wurden ausgewertet. Sie sprachen mit Ärzten, Katastrophenhelfern, Atomwerkern, Wissenschaftlern, Bewohnern der Zone. Mehr als in jedem anderen Buch spürt man aber gerade hier die Schwierigkeiten, an wirklich stichhaltige Zahlen und Daten zu kommen.

Die Autoren haben aufgeschrieben, was ihnen gesagt wurde, das hat manchmal eher anekdotischen Charakter, manchmal sind das beeindruckende Momentaufnahmen vom Leid einer Region. Doch vieles bleibt im Halbdunkel. Immer wieder wird über grausige Mißbildungen bei Kindern, aber auch bei Haus- und Wildtieren berichtet. Doch es gibt keine echte Bestandsaufnahme, kein Register, keine Vergleichszahlen. Das ist nicht der Fehler der Autoren, das ist die Kalamität von Tschernobyl.

Die Reportagen des Trios werden von kurzen, chronologisch gehaltenen Agenturmeldungen unterbrochen. Obwohl das Buch in einigen Passagen in Betroffenheitslyrik abgleitet, vermittelt es insgesamt ein dichtes, eindringliches Bild von den Folgen der Atomkatastrophe. Manchmal geht, wie bei Frau Schuchhardt, das Helfenwollen mit den Autoren durch. Dies kann verstehen, wer das Elend gesehen hat.

Alexander Kluge: „Die Wächter des Sarkophags“. Rotbuch, Berlin 1996, 154 Seiten, 18,90 DM

Karl-Heinz Karisch, Joachim Wille: „Der Tschernobyl-Schock“. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 1996, 185 Seiten, 16,90 DM

Erika Schuchhardt, Lew Kopelew: „Die Stimmen der Kinder von Tschernobyl“. Herder-Verlag, Freiburg 1996, 189 S., 16,80 DM

Frank Franke, Norbert Schreiber, Peter Vinzens: „Verstrahlt, vergiftet, vergessen“. Insel-Vlg. Ffm./ Leipzig 1996, 322 S., 29,80 DM