Mager rotieren die Hüften

Grauenhafte und schreckenerregende Sportarten, mit denen uns das Fernsehen quält, Folge XIV: das Gehen, seit 1908 erstaunlicherweise olympische Disziplin  ■ Von Albert Hefele

Berlin (taz) – Gehen ist eine edle Sportart. Zumindest wenn man dem „Puntsch“ Glauben schenken darf. Der ist kein wärmendes Getränk für die Eisbahn, sondern eine zwielichtige Zitatensammlung und spricht so: „Je edler eine Sportart ist, um so weniger hat sie Publikum.“ Überliefert ist dieser Spruch von einem Schriftsteller aus dem Fränkischen (Sigmund Graff, 1898–1979), dessen Unwichtigkeit nur von seiner Ahnungslosigkeit übertroffen wird. Edel ...? Obwohl ich keineswegs behaupten will, daß nur Sportarten toll sind, zu denen ein Haufen Leute rennen, muß ich Puntsch und Graff trotzdem ein entschlossenes „Schmarr'n“ entgegenschleudern. Sportarten, bei denen keiner zusehen will, verdienen dies in der Regel nicht besser. Keine Power, keine Anmut, kein Garnix. Darum gehen wir nie zu Sitzballwettkämpfen und meiden den Rhönradturner, der sich wie ein ermatteter Hamster niedlich in seinem Gerät spreizt! Schade um die Zeit. Darum schalten wir auch kompromißlos den Fernseher ab, wenn der stakelige Geher den Schirm quert.

Was dankenswerterweise nicht allzu oft geschieht. Wofür einmal der Kommerz zu loben wäre. Der Kapitalist liebt den Sport schließlich nicht wegen des gesundheitlichen oder ästhetischen Aspektes. Nicht im Traum. Er, der Kapitalist, will nichts anderes als seine, wie Blei im Lager schimmelnde Ware an den Mann bringen. Beispiel Mundwasser. Beispiel Henry Maske. Maske boxt ein bißchen herum und spricht vom Mundwasser. Was genau, ist mir entfallen und spielt auch keine Rolle. Zwischen Mundwasser und Boxen besteht schließlich nicht der allergeringste Zusammenhang (oder wurde schon mal wer wegen üblen Mundgeruchs disqualifiziert?). Trotzdem denkt es im Verbraucher ungefähr so: „Wenn ich mir solches Mundwasser in den Rachen schütte, bin ich irgendwie wie dieser Maske.“ Stärker und schöner. Erfolgreicher. Was weiß ich – maskoider jedenfalls. Völliger Blödsinn natürlich; funktioniert aber prächtig. Je größer die TV- Präsenz, desto prächtiger. Womit wir wieder bei den Gehern wären.

Welcher Sponsor möchte sein Produkt schon mit dem Gehen und den Gehern verquickt sehen? Hersteller von Schlaftropfen oder Produzenten von karierten Doppelsitzsäcken für Senioren? Kein Bedarf. Und somit hält sich die dem Geher gewidmete Sendezeit in Grenzen. Trotzdem dürfen wir in der kritischen Wachsamkeit nicht nachlassen. Bald ist nämlich Olympia. Das bedeutet, man kann denen den Schirm nicht verwehren, denn immerhin ist das sportive Gehen seit 1908 olympische Disziplin. Wirklich wahr? Wirklich wahr. Was schließen wir daraus? Erstens: Das Olympische Komitee rekrutierte sich bereits zur Jahrhundertwende vorwiegend aus am Grabesrand balancierenden Mumien. Zweitens: Wann nimmt das IOC endlich Eierlaufen und „Spitz paß auf!“-Turniere ins olympische Programm auf ...? Das ist doch albern? Gehen ist auch albern.

Oder kann mir jemand eine zickigere und unsinnigere Fortbewegungsart nennen? Wohlgemerkt – nichts gegen das gepflegte Flanieren entspannter Müßiggänger. Volles Verständnis der hampelnden Jugend, den eilig trippelnden Hausfrauen, die „noch schnell nach Aldi müssen“. Das ist gottgewolltes Gehen, wie es zurechnungsfähige Menschen betreiben. Die leichtathletische Disziplin gleichen Namens ist etwas ganz anderes. Eine völlig unsinnige Zwitterbewegung. Der Versuch, einen im Grunde gemächlichen motorischen Ablauf wettbewerbskompatibel aufzumotzen. Im vorliegenden Fall ein Ding der Unmöglichkeit, denn schnellstmögliches Gehen mündet unweigerlich im sogenannten Laufen. Der leichtathletische Geher darf aber nicht laufen. Eine schwachsinnige Regel zwingt ihn dazu, die Gesetzmäßigkeiten zunehmender Geschwindigkeit zu blockieren. Besser: zu kastrieren. Einerseits will er durch eine möglichst hohe Bewegungsfrequenz möglichst rasch Raum gewinnen. Andererseits ist er gezwungen, den Erfolg dieser Bemühung ständig zu verhindern. Kurz: Die Füße möchten sich vom Boden lösen, dürfen aber nicht.

Das ist wie Radrennfahren mit ständig angezogener Handbremse, wie Stabhochspringen mit einem fünfzig Zentimeter langen Stecken. Und sieht entsprechend blöde aus. Immer hoch mit den Sohlen: Wie beim Wettlauf über glühende Kohlen. Wie unbeholfenes Stöckeln auf viel zu hohen Stilettos. Vorgetragen von ein paar hoffnungslos untergewichtigen Kokotten. Jämmerlich der Versuch, mittels mager rotierender Hüften, die gelangweilt am Straßenrand gähnenden Freier zu ködern. Dazu zucken sie ratlos mit den knochigen Schultern und mahlen mit den dürren Ellbogen. Viel zu windige Kolben eines unter dünnem Dampf kriechenden schwächlichen Lokomotivleins. Nicht kraftvoll, nicht anmutig, nicht aufregend. Und geil schon gar nicht.