Und zweitens Blasphemie

■ In den USA gab es 1995 insgesamt 485 Versuche, Bücher aus Bibliotheken oder von Lehrplänen zu verbannen - darunter auch Twains Klassiker "Huckleberry Finn"

Trotz des First Amendment der amerikanischen Verfassung, der Garantie des Rechts auf freie Meinungsäußerung und freien Zugang zu Informationen, ist das Recht auf freie Lektürewahl zu einem neuen kulturellen und moralischen Schlachtfeld in den USA geworden.

Der Report „Attacks on the Freedom to Learn“, zusammengestellt von der Organisation „People for the American Way“, listet allein für das akademische Jahr 1994/95 458 Versuche auf, Bücher aus Bibliotheken zu entfernen und von Lehrplänen zu streichen – was in 169 Fällen auch gelang. An der Spitze dieser Liste steht Kalifornien mit 44 Anträgen, es folgen Texas mit 28, Pennsylvania mit 27 und Oregon mit 23. Der am häufigsten genannte Grund für Beschwerden gegen ein Buch war die als anstößig empfundene Darstellung von Sexualität, der zweithäufigste Grund Blasphemie.

Auch die amerikanische Bibliotheksvereinigung berichtet von Beschwerden. Das Buch, das 1995 die meisten Klagen auf sich zog, war Maya Angelous „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“, der erste Band ihrer hochgelobten Autobiographie. Darin schreibt sie über ihre harte Kindheit im amerikanischen Süden, ihre Vergewaltigung als kleines Mädchen und ihre Schwangerschaft als Teenager. Andere als anstößig empfundene Titel waren Mark Twains „Huckleberry Finn“ und „Daddy's Roommate“ von Michael Willhoite; dieses Buch beschreibt das Zusammenleben eines Kindes mit seinem schwulen Vater und dessen Partner. Die Autorin, die die meisten Proteste auslöste, war die Kinder- und Jugendbuchautorin Judy Blume, deren Geschichten über die Qualen der Pubertät von vielen Eltern als zu offenherzig empfunden werden.

Die Beschwerden kommen aus ganz unterschiedlichen Ecken. Während sich die christliche Rechte zum Wächter der wahren Werte der traditionellen Familie erhebt, protestieren andere gegen Darstellungen, die sie als rassistisch oder entwürdigend empfinden. Schulbeamte aus Georgia beispielsweise stießen sich an „Huckleberry Finn“ wegen „rassistischer Beleidigungen, roher Umgangssprache und fehlender Ablehnung der Sklaverei“. (Als es erschien, wurde es als Anti-Sklaverei-Buch gebrandmarkt!)

Proteste gegen „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ konzentrierten sich auf den sexuellen Inhalt. Das Buch sei eine „reißerische Darstellung sexueller Perversionen“, meinte eine High- School-Verwaltung 1994 in Colorado. Mitglieder eines Schulbuchausschusses in Alabama befanden, das Buch predige „Bitterkeit und Haß gegen Weiße“. Solche Proteste sind allerdings nicht immer erfolgreich; viele werden durch Gegenklagen zurückgewiesen. Oft kommt es zu Kompromissen wie beispielsweise in Oskaloosa, Kansas: Dort mußten die Lehrer den Eltern eine Liste aller umgangssprachlichen Wörter aus Katherine Patersons Buch „The Bridge to Terabithia“ vorlegen, bevor sie das Buch im Unterricht lesen durften. Philippa Nugent