Whitman = Tod

Kuba existiert nicht, der französische Konjunktiv auch nicht, Schwule gibt's erst recht nicht – zumindest nicht für amerikanische Schulkinder. Und selbst Gedichte müssen „sauber“ sein. Innenansichten aus einem Schulbuchlektorat  ■ Von Carl Morse

Als ich in den vierziger Jahren in Skowhegan, Maine, in die neunte Klasse kam, hatte ich alle Texte in meinem Lesebuch gelesen, bis auf eine Parabel von Dorothy Parker, „A Fingernail Moon“. „Aber wo“, fragte ich den Footballtrainerassistenten, „wo ist Walt Whitman?“ Denn im Lesebuch hatte ich nichts von ihm gefunden. Keine Antwort. Denn die Antwort war, daß es in den Schulen von Maine gesetzlich verboten war, Walt Whitman zu unterrichten. Und es noch immer ist, soweit ich weiß.

Als ich 1994 meiner 84jährigen Mutter – die ihre entscheidenden Bildungserlebnisse ebenfalls den Schulen von Skowhegan verdankt – erzählte, daß ich schwul bin, sagte sie als erstes: Wenigstens lebst du nicht in meiner Nähe. Und dann: Ich weiß gar nichts darüber. Und ich sagte: Wo hättest du auch was darüber erfahren sollen. In den Schulen von Skowhegan, Maine, bestimmt nicht. Und natürlich auch nicht in Skowhegans Zeitungen, Radiosendungen, seinen Kinos und Kirchen.

Ich erinnerte mich daran, als ich das erste Mal ein Bild von einem Schwarzen gesehen habe: 1942, als ich acht war, auf dem Titel von The Walterville Morning Sentinel. Es war ein grobkörniges Foto von zwei „Fuzzy-wuzzies aus Papua- Neuguinea“, die einen verwundeten US-Landser trugen. Ich liebte ihre Frisuren! Und ihre nackten Oberkörper. Und die Knochen in den Nasenlöchern.

In diesen Tagen sahen wir ja sonst nie Knochen in Nasenlöchern. Oder nackte Oberkörper, und die aus Hollywood waren immer rasiert. In den gesamten sechzig Jahren, die ich meinen Vater kannte, habe ich ihn nie ohne Hemd gesehen, nicht vor und nicht nach seinem Tod. Ich war hingerissen davon, daß es jemanden – etwas, irgend etwas! – vollkommen anderes gab als die Leute und die Kleinstadt, die mich erstickten.

Da hatte ich längst schon aufgegeben, weglaufen zu wollen. Als Achtjähriger fing ich an, meiner Mutter zu glauben, die immer und immer wieder sagte, daß ich, solange ich meine Füße unter ihren Tisch steckte und von ihren Tellern äße, ihr Sklave sei. Wenn ich nicht gehorchte oder freche Antworten gäbe, würde ich totgeschlagen, oder jedenfalls würde sie mich so lange prügeln, bis ihr „der Arm am Ellbogen abfällt“. Und sie vergaß nie zu hinzuzufügen, daß, wenn sie es nicht könnte, Vater das übernehmen würde.

Also trieb ich mich möglichst viel draußen in den Büschen und in der Bibliothek herum. Die Bibliothekarin Mrs. Marston ließ mich ziemlich früh in die Abteilung für Erwachsene. Ich war erst sechs oder sieben Jahre alt, da ließ sie mich schon in die Erwachsenen- abteilung – wo ich stundenlang blieb. Dort entdeckte ich Fabre, Rafael Sabatini und Thoreau. Und Whitman. Alle waren Lebensretter. Denn in meinem Dorf lernte man früh, alles zu vernichten, was nach Ameisen, Piraten oder Gedanken aussah.

Sex mußten wir nicht vernichten, denn den gab es angeblich gar nicht, obwohl meine Mutter unablässig davon redete. Alle paar Sekunden fing sie an, über einen herzuziehen, dem ein Kind angehängt wurde, oder eine, die es losgeworden war, oder alle diejenigen, die man schlagen sollte, bis sie endlich lernten, sich zu beherrschen. Da ihr der Footballkapitän persönlich auf einem Autorücksitz ein Kind angehängt hatte, schien sie alles „darüber“ zu wissen, was es zu wissen gab.

So wußte sie auch, daß Richter Brown im Staatsgefängnis von Thomaston saß, weil er eine Tunte war. Da sie nur Zugang zu relativ rustikalen Quellen für ihr Vokabular hatte, kannte sie nur zwei Wörter für Homosexuelle: Tunten [fairy = auch: Fee; A.d.Ü.] und Perverse. Ganz demokratisch wurden beide auf Frauen und Männer gleichermaßen angewandt. „Ich glaub', er ist 'ne Tunte.“ „Ich glaub', sie ist 'ne Tunte.“ „Würd' mich nicht wundern, wenn er/sie eine(r) von diesen Tunten wär'.“

Und ich war natürlich auch eine Tunte. Und ein Perverser. Nur wußte ich das nicht. Denn es gab kein Gefühl, kein Verhalten und keine Eigenschaft, die mich mit dem hätten identifizieren können, was den Tunten oder Perversen zugeschrieben wurde – allerdings nicht in meiner Gegenwart und nicht im Waterville Morning Sentinel und ganz gewiß auch nicht in meinem Lesebuch der neunten Klasse. Selbst Whitman, den ich schließlich in den Regalen der Stadtbibliothek von Skowhegan fand, gab mir, unschuldig und ahnungslos, wie ich war, keinerlei Anhaltspunkte. Denn Whitman gebrauchte das Wort fairy anders als meine Mutter.

Aber ihm gelang natürlich etwas anderes, etwas viel Wichtigeres: Er zeigte mir, daß ich wohl doch nicht verrückt war in der Art, wie ich Menschen, Tiere und Pflanzen wahrnahm – und auf ihre Weise taten das auch meine anderen Entdeckungen, Fabre, Thoreau und Rafael Sabatini.

Ich hatte bis dahin keinen Menschen getroffen, der auch nur annähernd so freundlich war wie Whitman oder Captain Blood, aber ich war sofort entschlossen, genauso zu werden. Nur so konnte ich überhaupt weitermachen. Und weil ich Beschreibungen von Ameisen las, die freundschaftlich zusammenlebten und sich gegenseitig halfen. Und weil es in „Life Without Principle“ diesen Trotz gegen den Staat gab. All dieses Wissen schloß ich tief und für immer in mein Herz.

Trotzdem dauerte es noch mehr als zehn Jahre, bevor ich einen Zusammenhang zwischen mir und Richter Brown herstellen konnte. Und der war nicht einmal besonders treffend. Denn Richter Brown liebte Jungs. Und für mich waren, seit ich vier Jahre alt war, alle Jungs Folterer und Quälgeister. Ich blieb bezüglich meines Schwulseins in seliger Ahnungslosigkeit bis ins reife Alter von 19 Jahren, als ich in Yale meinen ersten Captain Blood fand – einen Tenor, eine Tunte und ein Arschloch. Aber das ist eine andere Geschichte.

1995, 50 Jahre nachdem ich in meinen Schulbüchern keinen Whitman gefunden habe, hatte ich ein Vorstellungsgespräch bei einem Verlag, der jemanden zum Schreiben der Begleittexte eines Lyrikschulbuchs für die neunte Klasse sucht. Meine erste Frage lautet: Ist Whitman in diesem Buch schwul oder nicht? Die äußerst angenehme Lektorin antwortet: Nicht in der neunten Klasse. Vielleicht in der zwölften. Frühestens. Sie gibt mir eine Auswahl früherer Ausgaben dieser ungeheuer lukrativen Schulbücher, die von mir und anderen Schriftstellern nun Stück für Stück modernisiert werden sollen, damit sie besser in die Schulen von heute passen. Diese frühen Ausgaben sind sogar sehr schön zusammengestellt. Und sie enthalten gar nicht wenig wirklich gute Lyrik. Das meiste davon soll gestrichen werden.

Das erinnert mich an das Schleifen des Bahnhofs Penn Station. Und an das Französischbuch, in dem ich das Partizip Perfekt der reflexiven Verben und den Konjunktiv weglassen sollte. Und an das Spanischbuch, in dem, trotz heftiger Proteste meinerseits, Kuba auf der Liste der spanischsprechenden Länder nicht auftauchte. Keine Spur von Kuba. Nicht einmal ein Loch im Meer. Kuba, das neue Antlantis.

Ganz zu schweigen von den Biologiebüchern, in deren Vorworten – über meine professionelle Leiche hinweg – Entschuldigungen für die folgenden darwinschen Auffassungen standen. Oder die Geschichtsbücher der sechsten Klasse, in denen bunte Zeichnungen strahlende Indianer zeigten, wie sie wohlwollende Zugreisende im Alten Westen herzlich willkommen hießen. Oder die Biologiebücher für die Oberstufe, in denen Nahaufnahmen aufragender Blütenstempel gestrichen wurden, weil sie zu „suggestiv“ waren. Ich suche Whitman in der zwölften Klasse. Er ist nicht schwul. Überhaupt ist niemand schwul – in keiner Klassenstufe.

Andererseits hat geheimnisvollerweise anscheinend jeder eine Hautfarbe. Das war in den Vierzigern entschieden anders, da hatte keiner eine Hautfarbe, außer Jeanne Crain in „Pinky“. Aber heutzutage haben selbst Weiße eine Hautfarbe – oder tun wenigstens so. Seltsame moralische Beiges und Rosas, nie geahnte Beschreibungen von Temperamenten, Einstellungen und Reaktionen, als ob Rasse – oder besser: Klasse – nicht existierten. Als ob der Durchschnittsbürger das ganz andere plötzlich vollkommen versteht und sich mit ihm identifziert. Es sei denn, sie sind schwul, diese anderen. In diesem Fall existieren sie nicht – wie Kuba, der Konjunktiv und naturwissenschaftliche Tatsachen. Zumindest nicht für amerikanische Schulkinder.

(Das erinnert mich an Nixon, der einen Mann als Botschafter nach Paris schickte, der kein Französisch konnte. Die Franzosen bissen die Zähne zusammen und warteten. Der Augenblick der Rache war gekommen, als US-amerikanische Bomber auf dem Weg zu ihrer illegalen Bombardierung Libyens um Frankreich herumfliegen mußten. Wer wußte besser als die Franzosen, daß ein Volk, das ein Grunzen dem Konjunktiv vorzieht, am Ende Bomben werfen würde. Weiß der Himmel, welche Landkarten und Verben in Nixons Schulbüchern fehlten! Oder in denen von Jeffrey Dahmer.)

Darüber hinaus ist in keiner Klassenstufe irgendwer – ob Autor oder literarische Figur – ein gemeiner Trinker. Und absolut niemand hat jemals Sex. Und noch viel weniger bringt sich je einer um. Und entschieden niemand widersetzt sich je der Autorität.

Dabei war die Hälfte der in diesen Schulbüchern abgedruckten Autoren verrückt nach Sex, sie waren staatsfeindliche und bullenhassende Säufer und Verrückte, die entweder wahnsinnig wurden oder sich und ihre Nachbarn aus Verzweiflung über Ungerechtigkeiten, die Menschheit im allgemeinen und derartige Schulbücher im besonderen vergifteten, erhängten oder erschossen. Ich beschließe also, diesen Autoren ein paar interessante Zeilen in die den Texten

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nachgestellten Lebensläufe zu zaubern. Aber meine Lebensläufe sind zu interessant. Man zensiert sie. Doch ich greife vor.

Versehen mit freundlichen und ernsten Warnungen meines Lektors, doch bitte „genau“ zu sein, darf ich mich um die Lyrik für die neunte Klasse kümmern. Vor mir hat schon mal einer zwei Jahre daran gesessen und ein Manuskript produziert, das nicht druckbar war. Man gibt mir drei Monate, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen.

Ich sehe mir die vorgeschlagene Inhaltsliste an. 29 Gedichte sind es. Und es sind im wesentlichen dieselben Gedichte wie in meinem Schulbuch in Skowhegan, Maine, vor 50 Jahren! Eine Auswahl, die garantiert die Sklaven bei der Stange hält. Klar, einige Autoren und Themen sind andere, aber im großen und ganzen ist es derselbe Brei wie früher! Anhand dieser Sammlung könnte keiner lernen, was Dichtung wirklich ist. Kein Whitman, Millay – und Houseman gibt es erst in der zwölften Klasse, und zwar in einer Auswahl, die so steril ist wie frische Damenbinden. Es gibt sogar Allen Ginsberg! Es ist ihnen gelungen, für die zwölfte Klasse das einzige Gedicht zu finden, in dem Ginsberg weder piss, shit, fuck, corruption noch revolution sagt.

Und man hat noch weitere Wunder vollbracht. Man hat etwas Hübsches von Anne Sexton gefunden. Die Auswahl von Emily- Dickinson-Gedichten könnte von Oprah Winfrey stammen. Und sie haben Roethkes „Papa Waltz“ genommen, weil sie meinen, es sei ein „Familiengedicht“ (na ja, Daddy ist zwar völlig stoned und prügelt uns von einer Ecke in die andere, aber tief im Herzen meint er es nicht böse). Nicht einer der Gedankenpolizisten der Auswahlkommission ist in fünf Durchgängen auf die Idee gekommen, daß am Ende von „Papa Waltz“ der gute Alte sein Söhnchen ins Bett bringt und ihn wahrscheinlich halb zu Tode fickt. Und die gleichen Wächter des Glaubens an das Gute haben nicht kapiert, daß EE Cummings Gedicht „In-Just-So- Spring“, das sie unbedingt wieder aufnehmen wollen, nachweislich von einem Mann handelt, der kleinen Kinder nachstellt.

Und es gibt noch andere Probleme. Man bittet mich, über idiomatische Aspekte in Gedichten zu schreiben, die keine idiomatischen Aspekte haben, über Rhythmus in Gedichten, die keinen Rhythmus haben, über Klangfarben in Gedichten, die keine Klangfarbe haben, und über Dramatik in Gedichten, die keine Dramatik haben. Ich soll außerdem bei bestimmten Prosatexten so tun, als handele es sich dabei um Gedichte. Oder als ob eindeutige Nichtschriftsteller Dichter seien. Ach ja, und dann soll ich auch nicht vergessen, diese „Lyrik“ zugänglich zu machen, interessant und relevant für 14- bis 15jährige – diese Gedichte ohne Metaphern, Rhythmus, Klang, Dramatik, Sex, Schwangerschaft, Geld, Macht, Widerstand, Suff und Selbstmord.

Dafür gibt es ein Gedicht darüber, wie man in den Himmel kommt. Ein anderes handelt vom Nebel. Und wieder ein anderes vom Regen. Und eines vom Schnee. Und eines von Blumen und Schlangen, kleinen Hunden und Hoffnung.

Das erste also, was ich – ungebeten – tue, ist, eine Liste mit 120 Alternativen zu diesen 29 Gedichten aufzustellen. Ich schlage Whitman vor und Millay und Housman. Ich schlage Gedichte vor, die idiomatisch sind, die Rhythmus haben und Klangfarbe und Dramatik. Ich schlage Gedichte vor über Themen, die Neuntklässler interessant finden. Und Gedichte, aus denen Menschen allen Alters etwas lernen können. Über so ungewöhnliche Dinge wie damals für uns die Fuzzy-wuzzies aus Papua-Neuguinea, in Skowhegan, Maine, 1942. Dinge, über die keiner spricht. Wie Intimsphäre. Und Sklaverei. Oder Verlogenheit.

Am Ende wird einer meiner Vorschläge angenommen. Die anderen 119 sind zu „rasterhaft“. Whitmans „I think I could turn and live with animals“ darf nicht rein, weil es etwas wenig Freundliches über Christen sagt (ich werde ewig dakbar sein, daß mir in dieser Hinsicht die Augen geöffnet wurden). „When I heard the learn'd astronomer“ ist bis zur letzten Minute im Rennen, als es plötzlich durch ein stinkendes Stück religiöser Scheiße mit dem Titel „Forgive My Guilt“ von Robert Peter Tristram Coffin ersetzt wird. In dem Gedicht ist nun endlich von „Sünde“ die Rede. Das nenne ich das zitternde, kranke Kätzchen vom Schlitten werfen, den rechten Wölfen direkt vor die Fresse. Das ist die Rache der vierziger Jahre. Die Rache der 1540er. Die Rache der Newts [Wortspiel; newt = Wassermolch; gemeint ist Newt Gingrich; A.d.Ü.]. Ich schlage als Schlagzeile für die Schülerzeitung vor: „Whitman durch Coffin [= Sarg; A.d.Ü.] ersetzt!“

Aber einen meiner Vorschläge akzeptieren sie! Essex Hemphills Gedicht „American Hero“. Sie sind begeistert. Es ist von einem Schwarzen. Es geht um Basketball. Es geht um Bigotterie. Es ist überhaupt alles, wovon ein Lesebuchverleger nur träumen kann. Es ist neu und unverbraucht. Man hat den ganzen Kanon des Verfügbaren schon so oft durchkämmt, es gibt einfach keine „sauberen“ Gedichte mehr, die noch nicht entdeckt sind. Alle sauberen Gedichte sind tausendfach gedruckt, immer wieder und besonders von der Konkurrenz. Dies hier ist ein richtiger Coup: ein sauberes Gedicht, das noch keiner nachgedruckt hat. Es ist zufällig auch das einzige „saubere“ Gedicht, das der schwarze, schwule, wüste Dichter Essex Hemphill, ein Protagonist des verbotenen Films „Tongues Untied“, jemals geschrieben hat.

In Hemphills Lebenslauf nenne ich den gesamten Titel seiner Anthologie „Brother to Brother: New Writings by Black Gay Men“. Dieser Titel, diese neun Worte, sind die einzigen, die aus meiner Kurzbiographie über ihn gestrichen werden. Sie erscheinen nicht im fertigen Buch. Nicht einmal Schwarze dürfen schwul sein. Oder Brüder. Nicht James Baldwin. Nicht Lorraine Hansberry. Nicht Langston Hughes. Nicht Essex Hemphill.

Andererseits ist der Verlag derart begeistert, daß er Hemphill um einen Autorenkommentar bittet. Er liefert ihnen einen, der nie im Leben gedruckt werden wird. Vielleicht nach seinem Tod... Aber sie haben, was sie wollen: ein sauberes, sicheres Gedicht von einem Schwarzen über Basketball und Bigotterie.

Meinem Lektor zufolge leiste ich „phantastische Arbeit“. Man lobt, daß ich es verstünde, zu jungen Leuten zu sprechen. Daß ich so gut schreibe, daß man feuchte Augen beim Lesen kriegt, und daß mindestens einer der Lektoren einen besonders inspirierenden Text an seinem Kühlschrank zu Hause angepinnt hat. Der Verlag wird mich bestimmt wieder einmal um Mitarbeit bitten.

Ob das nun richtig war oder nicht: Ich habe all meine Energie und mein Können in dieses Projekt gesteckt, um das, worum man mich gebeten hat, gut zu machen. Wie immer. Und ich kann beim besten Willen nicht sagen, daß es mir leid tut, ein Zuhälter und Perverser für Schulbuchlyrik zu sein. Vielleicht geht es mir sogar besser, nachdem ich auf diese Weise die Beine breit gemacht habe. Und ich werde meinem Zahnarzt auch nicht die Zähne zurückgeben, die ich mir für dieses Blutgeld habe leisten können. Ich bin außerdem zutiefst dankbar dafür, daß ich in den Monaten während dieser Arbeit nicht heimatlos war. Und außerdem durfte ich so den gesamten Kanon amerikanischer und britischer Dichtung wiederlesen, auf anderer Leute Kosten. Und dennoch schmerzen und eitern die moralischen Bedenken wie eingewachsene Zehennägel („A Fingernail Moon“) vor sich hin.

Aber dann sind sie auch wieder nicht viel schlimmer als die moralischen Bedenken in anderen Bereichen des Lebens. Und ich glaube, daß ich, trotz hartnäckiger Widerstände, ein paar kleine Begeisterungsanfälle fürs Leben und die Dichtung in diesen großen Sarg einschmuggeln konnte. Und ich weiß, daß es mir gelungen ist, ein paar stinkende, beißende Stückchen an den Nasen unserer selbsternannten Wächter vorbeizutragen. Mögen sie für immer zu blöde sein, sie zu erkennen. (Ich möchte hier die Gelegenheit ergreifen, meiner äußerst angenehmen Lektorin ein Kompliment zu machen, die – mutig und unerschütterlich, aber hoffnungslos von Vandalen und Hunnen überrannt – den wahren Glauben verteidigte. Und Whitman, soweit sie es konnte, ohne Kopf und Job zu riskieren. Hut ab vor ihrem altmodisch fühlenden Herzen!)

Mein Haupterfolg ist allerdings Hemphills Gedicht „American Hero“. Ich bedaure nicht nur nicht, daß ich diese Zeitbombe an Leuten vorbeischmuggeln konnte, die es ansonsten nicht wert sind, Hemphills Schwanz in den Mund zu nehmen, sondern stelle mir statt dessen vor, daß eines Tages ein paar verzweifelte Kids wegen dieses Gedichts Hemphills wunderbar schmutzige, moralische, gefährliche, lebensspendende Gedichte in den Regalen ihrer Bibliothek (wenn es bis dahin noch Bibliotheken gibt!) suchen und plötzlich entdecken – wie ich 1942 durch Thoreau, Fabre und Sabatini und Whitman –, daß Kuba existiert und daß nicht alles auf der Welt dasselbe widerliche Spiel ist. Ein Spiel, das von machthungrigen Kretins beherrscht wird, die alle als Sklaven behandeln, die sie mit Brot und Spielen immer ködern können. Sondern daß das Leben ständig und immer voll ist von Milliarden sich ständig neu entwickelnder Formen von köstlichen, lebenstrunkenen, nackten Fuzzy-wuzzies mit von Knochensplittern durchbohrten Nasen. Die nicht nur ganz anders, ganz un-Disney, aussehen und handeln, sondern dadurch auch zutiefst reale und vollkommen vernünftige Räume des Möglichen bewohnen und hüten.

Carl Morse ist Dichter und Theaterschriftsteller, war Herausgeber für viele Verlage und mehrere Jahre lang Publishing Director am „Museum of Modern Art“, New York. Der Londoner Verlag „Geta Grip“ hat gerade einen Sammelband von vier Stücken von ihm unter dem Titel „Fruit of Your Loins“ herausgebracht.