Geborgenheit im Garten Eden

Praller Glanz: Die entrollten „Thangka“-Stoffbilder aus dem Tibet-House werden in Berlin ausgestellt  ■ Von Petra Welzel

In Auschwitz gab es keine, in Tibet gibt es keine Kameraaugen, denn im Blitzlichtgewitter ist es ungleich schwerer, Menschen zu töten.“ So lautete das Resümee Bernard Kouchners, des Mitbegründers von „Medecins sans frontières“ angesichts der Situation des von China unterdrückten Tibet. Zugleich meinte der Arzt ohne Grenzen auch, daß nur die Dokumentation von Kriegen, Katastrophen und Menschenrechtsverletzungen im Fernsehen und in Zeitungen Mitleid bewirke, Helfersyndrome wecke und Spendengelder fließen lasse. Aus Tibet kommen seit Jahren keine Bilder mehr, zumindest keine, die die chinesische Regierung nicht zensiert.

Während sich Taiwan unlängst größter Medienpräsenz sicher war und deshalb einen Einmarsch der vor ihrer Küste manövrierenden chinesischen Volksarmee nicht befürchten mußte, kämpft das tibetische Volk seit 1959 gegen den völkermordenden Drachen aus dem Osten. Die TibeterInnen tun das im eigenen Land, und sie agieren aus dem Exil. In Indien, wo die größte Exilgemeinde der TibeterInnen lebt, gründete 1965 der Dalai-Lama, das geistliche Oberhaupt des buddhistischen Volkes, das Tibet-House in Neu-Delhi. Dort wird aufbewahrt, was an tibetischer Kultur vor den Chinesen gerettet werden konnte und kann.

Mehr als 200 Thanka-Malereien, ebenso viele Statuen aus verschiedenen Materialien und andere tibetische Kulturgüter zählen zu den Schätzen des Museums, das gleichzeitig als einziges Zentrum für tibetische und buddhistische Studien genutzt wird. Nach drei Jahrzehnten ist nun das erste Mal ein Teil jener Schätze in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu sehen. Nach St. Gallen macht die Ausstellung zur Zeit im Museum für Indische Kunst in Berlin Station. Unter dem Titel „Mitleid und Wiedergeburt in der tibetischen Kunst“ wurden 30 „Thangka“-Stoffbilder entrollt. Wie früher hierzulande mittelalterliche Altäre immer nur an bestimmten Kirchenfesttagen geöffnet wurden, so werden auch die Thangkas bis heute nur zu bedeutenden Anlässen aufgerollt und aufgehängt.

Ein süßlicher Duft weist im Dämmerlicht des Indischen Museums den Weg zur Sonderschau. Zwischen den einzelnen Vitrinen liegen gelbe und orangene Asternblüten, Räucherstäbchen sorgen für das betörende Aroma. Tibetische Exilmusik vom Band entrückt die Atmosphäre dem Museum.

Porträts des Dalai-Lamas und Figuren tibetischer Mythen und Legenden glänzen von Seidenbrokatstickereien oder als auf verschiedenen Stoffen collagierte und applizierte Bildwerke. Oder sie schimmern mit Wasserfarben und Gold gemalt von feinem Seidendamast. So heißt eine der Gestalten „Der Herr des unermeßlichen Strahlens“. In einer schützenden Kugel schwebt er über der Erde, gestützt von acht Stupas, Türmen buddhistischer Tempelanlagen. Rechts und links oben im Himmel auf einer Wolke hockend, bringen ihm engelsgleiche Wesen ein Ständchen mit Zimbeln und Posaunen und gießen goldenes Wasser auf ihn herab. Geborgen im sicheren Kreis sitzt der Strahlende in einem blühenden Garten, umgeben von sich in den Lüften wiegenden Frauen, als wäre es der Garten Eden: Im Angesicht des prallen Glanzes tauchen Gläubige in Heilserwartung ein in das Abbild Christi. Die Bildsprache unterscheidet sich kaum von der christlichen – abgesehen von den rein äußerlich anders gestalteten Ikonen. Je mehr Gold und Glanz, desto größer versprach früher die spirituelle Wirkung zu sein – zumindest unter den TibeterInnen ist das auch heute noch so.

Die in der Ausstellung gezeigten tibetischen Rollbilder stammen aus dem 17. bis 20. Jahrhundert und sind alle in derselben Art und Weise gearbeitet. Doch trotz der gleichgebliebenen Machart der Bilder meint man andere Inhalte in den symbolreichen Geschichten und Figuren zu erkennen. Beispielsweise in der Geschichte, die einer der Künstler in den 70er Jahren dieses Jahrhunderts entwarf. Im „Pferdenacken“ tobt eine wild tanzende Gestalt mit Dämonenmaske, Schwert und Zepter über einem sich anlächelnden Skelettpaar. Als wäre sie der Meister der Hölle, wirbelt die Gestalt mit ihren Waffen vor einem lodernden Feuer und zerstampft jämmerliche nackte Menschlein unter ihren Füßen.

Historisch betrachtet, ist der Pferdenacken eine alte Meditationsgottheit, die das männliche Prinzip verkörpert, das, mit Schöpferkraft und Macht ausgezeichnet, Sieger über unheilsame Zustände ist. Den TibeterInnen ist bis heute die mythologische Bedeutung des dämonischen Gottes bekannt, denn kein anderes buddhistisches Volk ist so tief verwurzelt in seiner Religion wie das tibetische. Doch wie auch schon Hieronymus Bosch im christlichen Mittelalter in seinen ungeheuerlichen Höllendarstellungen den Verfall und die Mißstände seines Zeitalters anprangerte, so wollte auch der tibetische Mönch, der dieses Thangka fertigte, auf den Kampf seines Volkes hinweisen. Seine verschlüsselte Botschaft: Am Ende werden wir Tibeter die Sieger über die uns unterdrückenden Chinesen sein.

Seit 1959 schlossen die Chinesen 6.000 Klöster in Tibet, Orte, aus denen sich die tibetische Kultur nährt. 1,2 Millionen TibeterInnen wurden bisher von den chinesischen Besatzern ermordet und zu Tode gefoltert, und nie zuvor haben so viele von ihnen in Gefängnissen gesessen wie zur Zeit. Im letzten Jahr berichtete eines der überlebenden Folteropfer, der 65jährige Mönch Palden Gyatso, über die 33 Jahre seiner Gefangenschaft vor der UN-Menschenrechtskommission in Genf: „Im Gefängnis waren wir grausamen Behandlungen verschiedenster Art ausgesetzt. Im Winter wurden wir draußen aufgehängt und mit kaltem Wasser überschüttet. An heißen Sommertagen trat an die Stelle von kaltem Wasser ein Feuer, das unter dem hängenden Gefangenen angezündet wurde. Zu anderen in dieser Position vorgenommenen Formen der Mißhandlung gehörten Schläge mit Ledergürteln sowie mit elektrischen Viehtreibstöcken oder mit Eisenstangen.“ Die Folterinstrumente hatte er als Beweis gleich mitgebracht: „Dies ist ein Viehtreibstock der Art, wie er mir in den Mund und inhaftierten Nonnen in die Geschlechtsorgane gestoßen wurde.“ Für solche Grausamkeiten gibt es allerdings auf keinem der Bilder ein Pendant.

„Mitleid und Wiedergeburt in der tibetischen Kunst“. Bis 28. April, Museum für Indische Kunst, Berlin; ab 9. Mai: Staatliches Museum für Völkerkunde, Dresden