Erst Spielhalle, dann Bank

Hamid Abdanur kam mit 7, klaute mit 10, raubte mit 14 und sitzt mit 18: Einer von vielen Ausländern im Jugendknast  ■ Von Richard Laufner und Miriam Reddemann

Diese Geschichte hat Hamid schon erzählt. Seinem Zellenmitbewohner, dem Kurden Erdal, abends ab viertel vor acht nach dem Einschluß. Oder sich selbst, wenn er morgens vor dem Wecksignal im Halbschlaf döst. Er hat sie dem Sozialarbeiter und seinem Jesus erzählt. Den haben ihm einst Missionare aus dem Westerwald nahegebracht. Er erzählt diese Geschichte nicht sehr gerne, aber auch nicht widerwillig.

Da sitzt er allein auf der Couch im mäßig gemütlichen Gruppenraum der Justizvollzugsanstalt (JVA) im hessischen Rockenberg bei Butzbach. Hamid, breitschultrig-durchtrainiert, sitzt da im Galaxy-Footballhemd und schwarzer Jogginghose. Die Ellenbogen hat er auf die Knie gestützt, die Finger ineinander verhakt. Manchmal blickt er aus dem vergitterten Fenster in Richtung Autobahn Frankfurt–Kassel.

Hamid Abdanur aus Etritrea erzählt, wie er als Siebenjähriger nach Deutschland kam und warum er gerade in Hessens Jugendknast seinen 18. Geburtstag gefeiert hat – als langjähriger Häftling.

Hamid mag Sozialarbeiter nicht; seine Geschichte aber wäre eine Fallstudie für ein sozialpädagogisches Lehrbuch. Im Sommer 1985 – daran erinnert er sich nur noch vage – saß er mit der Mutter und drei Brüdern im Flugzeug nach Deutschland. Der Vater war in Eritrea geblieben, das damals durch seinen Unabhängigkeitskampf gegen Äthiopien zu einem gefährlichen Land geworden war.

Die Flüchtlingsfamilie zieht in die Marburger Trabantensiedlung Richtsberg. Schon eine Woche später lernt Hamid in der Astrid- Lindgren-Grundschule seine ersten Worte Deutsch. Kontaktprobleme hat er keine. Aber er findet die falschen Freunde. Schon mit 9 Jahren steckt er in einer Clique, die sich mit Kiffen und Saufen die Zeit vertreibt: „Wäre mein Vater dagewesen, hätte ich keine Chance gehabt, Scheiße zu bauen“, glaubt er heute. Die Mutter gibt ihm „öfter eins auf die Backen“. Das hindert ihn nicht am Schuleschwänzen. Oder am Klau eines Portemonnaies aus dem Lehrerzimmer.

1992 wird Hamids Schicksalsjahr. Er ist gerade 14 Jahre alt. Zu Haschisch, Alkohol und Koks kommt die Erfahrung, mit Gewalt Macht ausüben zu können. In übermütiger Herausforderung von law and order nennt sich ein halbes Dutzend Kids „Crime Boyz“, zieht in eine gemeinsame Wohnung und macht dem Namen alle Ehre.

In der Gießener Innenstadt überfallen sie ein Chinarestaurant. Mit Kribbeln im Bauch, Gaspistole und Vermummung in Aktion: Hamid und sein Freund Jake. An einem Sonntagmittag im November ist dann eine Spielothek in Marburgs Fachwerkkiez Weidenhausen dran. Doch da hat Hamid Pech. Nur 300 Mark Beute. Polizisten mit Hunden jagen ihn durch die Stadt und verhaften ihn mit gezückten Pistolen. Die Crime-Boyz- Ära ist zu Ende. Hinter dem 14jährigen schließen sich zum erstenmal die Metalltore von Rockenberg: „Ich dachte, ich träume. Ich war ganz weg. Erst nach zwei bis drei Monaten verstand ich richtig, was los war.“

Verstand er nicht. Zwei Jahre später macht er als Freigänger eine Lehre bei einer Baufirma. Als einer der Chefs ihn fünf Tage vor Weihnachten rausschmeißt und die Clique Geld für die Silvesterparty in Holland braucht, übernimmt Hamid den Überfall auf eine Sparkasse in Frankfurt-Hoechst: „Ich war immer der Depp, der die Sache durchziehen sollte.“

Ein Bankraub wie im Krimi, Gaspistole, „Hände hoch, alles hinlegen!“, Geld eintüten, raus: „Da denkste nicht viel, nur schnell mußte sein.“ Mit 70.000 Mark versteckt er sich, wird tags darauf von einem Kumpel verpfiffen. Rockenberg hat ihn wieder, einer von 60 Prozent Rückfälligen.

Eigentlich endet damit Hamids Geschichte. Im Knast spielt die Geschichte keine Rolle. Hier zählt der Alltag, und der ist für alle gleich. Für 4.600 Insassen in den 20 deutschen Jugendstrafanstalten. Und für die 200 Jugendlichen in der relativ liberalen JVA Rockenberg, einem 1338 erbauten ehemaligen Zisterzienserinnenkloster.

Hamid Abdanur muß sich innerhalb der Mauern arrangieren. Er muß sich durchsetzen, um nicht zu den Gedemütigten, „Abgerippten“ am Ende der Hierarchie zu gehören. Oft sind das Deutsche, die „fertig“ sind und weniger Zusammenhalt haben als Türken, Marokkaner oder „die Jugo-Mafia“. Hamid kann es sich leisten, Verlierern zu Hilfe zu kommen. Als zwei gezwungen werden, sich gegenseitig zum Ergötzen anderer immer fester zu ohrfeigen, geht er dazwischen. „Eine Seele von Mensch“, nennt ihn ein Vollzugsbeamter.

Mittlerweile hat Hamid den Hauptschulabschluß geschafft und macht eine Lehre als Koch. Feixend übt er mit den Kumpels das schwungvolle Wenden der Bratkartoffeln. Die Fleischmesser zählt Kochmeister Rolf Bay nach Dienstschluß vorsichtshalber nach. Die sieben Azubis dürfen statt des Anstaltsessens die – wesentlich schmackhaftere – eigene Produktion genießen, die Hamid in weißer Kluft auch den 165 Anstaltsbediensteten serviert. Aber trotz kleiner Vorteile und aufgeräumter Stimmung in der Kochgruppe: „Freundschaft zählt nur, wenn du was hast.“ Vor allem Drogen. Wegen eines Haschischdeals hat es am Vortag während einer Freistunde eine Massenschlägerei mit mehreren Verletzten gegeben. In den verschiedenen Cliquen wissen die meisten, wie man zuschlägt. Der gut ausgebaute Kraftraum im Keller ist eines der wichtigsten sportlichen Betätigungsfelder. Das sieht man den Jungmänner-Bodies an.

Die vergitterte Zehn-Quadratmeter-Doppelzelle sieht aus wie tausend andere in deutschen Haftanstalten: durchgelegene Matratzen, Toilette mit Waschbecken, Bruce-Lee-Plakat, Nippes und ein Ghettobluster. Auffallend sind nur zwei frömmelnde Zeitschriften des Missionswerks und die Bibel. Abdanur, Hamids arabischer Familienname, heißt „Diener des Lichts“. Obwohl er seinem Namen bisher nicht gerade gerecht geworden ist, hat doch sein Glaube Hamid in letzter Zeit zu so etwas wie Reumütigkeit geführt: „Für mich war es das Beste, hinter Schloß und Riegel zu kommen. Sonst wäre ich noch schlimmer geworden.“

Daß es für Ausländer des öfteren schlimmer kommt als für die Deutschen selbst, glaubt Hamid nicht. Bisher habe er sich nicht diskriminiert gefühlt. Daß über 50 Prozent der JVA-Insassen Nichtdeutsche sind – bei einem Ausländeranteil von 21 Prozent bei den Vierzehn- bis Achtzehnjährigen in Hessen –, „liegt vielleicht auch daran, daß wir einfach zuviel Energie haben: Die Deutschen sind so erzogen, daß sie die in Schule und Arbeit stecken.“

Hamid hat die üblichen Knacki- Sehnsüchte: „Einmal ganz weit laufen. Und natürlich Mädchen und Zärtlichkeit.“ Ein anderer Traum: als Koch auf einem Luxusdampfer in die Karibik. Aber Hamid malt sich seine Träume nicht lange aus. Die Rückkehr in die Wirklichkeit wäre zu ernüchternd.

Die Gerichtsverhandlung wegen des Banküberfalls wird erst im Mai beginnen. Da dürfte eine ein- bis zweijährige Haftstrafe herauskommen.

Und das könnte anschließend auch die Abschiebung bedeuten. Die empfinden ausländische Jugendliche als zweite Bestrafung. Bei einer Verurteilung zu über zwei Jahren Haft ist sie nach dem verschärften Ausländerrecht obgligatorisch. Von der Ausländerbeauftragten und Sozialpädagogin Ute Böck bis zum Anstaltsleiter Johannes Fleck wissen alle, welche Folgen das schon im Knastalltag hat: Die Konzentration auf die Ausbildung läßt nach, Wiedereingliederungsbemühungen werden „erheblich beeinträchtigt“.

Keiner der jungen Männer kann sich vorstellen, dorthin zu gehen, von wo die Eltern vor Jahrzehnten weggegangen sind. Ute Böck: „Gerade den hier Aufgewachsenen raubt diese inhumane Regelung jede Perspektive.“

Beim Thema Abschiebung verrät nur eine ganz kurze, unkontrollierte Handbewegung Hamids Emotionen. Er dreht sich eine Zigarette: „Dann fange ich halt an, im Busch rumzujagen.“ Hamid zuckt mit den Schultern. Die Landessprache Eritreas, Tigrinya, kann er noch sprechen. Das Elternhaus, von dem er sich nie weit entfernen durfte, die Hitze und die Panzer auf den Straßen sind die einzigen Erinnerungen an das Eritrea seiner Kindheit. Wie Hamids Geschichte dort einmal weitergehen könnte? Für den 18jährigen gibt es nur ein Jetzt – die Zukunft, wo auch immer „draußen“ sie beginnen wird, hat für ihn kein Gesicht.

Zum Abschied ein etwas kraftloser Händedruck. Bald ist Einschluß. Dann liegt Hamid Abdanur, „Diener des Lichts“, in Zelle 111 oben auf dem Doppelbett. Zur Technomusik aus dem Ghettobluster liest er vielleicht in der Bibel: „Das gibt mir Kraft.“

Bis seine Geschichte weitergeht.