Das dienende Auge des Staates

■ Der dokumentarische Spielfilm Nikolaikirche begleitet eine Leipziger Familie während der Montagsdemonstrationen

In der Leipziger Nikolaikirche fing alles an. Die montäglichen Friedensgebete waren ein Dorn im Auge des Staatsapparates. Der Befehl kam von höchster Ebene, von SED-Chef Honecker selbst. Am Montag, den 9. Oktober sollte zugeschlagen, sollten die „negativen feindlichen Elemente entfernt“ und die Konterrevolution mit allen Mitteln niedergeworfen werden. „Und auf alles war man vorbereitet“, resümiert ein SED-Funktionär, „nur nicht auf Kerzen und Gebete.“

Vor diesem Hintergrund erzählt Nikolaikirche die Geschichte einer linientreuen Leipziger Familie während der unruhigen Zeit von 1987 bis zu den ersten Rübermachern und Montagsdemonstrationen. Es beginnt mit dem plötzlichen Tod des Vaters Albert Bacher. Der hochdekorierte Vo-Po-Offizier stirbt an einem Herzinfarkt. Sein Tod erschüttert die Familie, Sinnfragen werden gestellt.

Die Ehe der Tochter Astrid Protter (Barbara Auer) dümpelt derweil ruhig vor sich hin. Ihre Arbeit als kritische Architektin ist unerwünscht. Der Stasi-Karriere ihres Bruders Sascha (Ulrich Matthes) ist es nicht gerade dienlich, wenn sie später aus der Partei ausgeschlossen wird und die Mutter (Annemone Haase) Kontakte zu einem Wessi unterhält.

Nikolaikirche basiert auf der gleichnamigen Romanvorlage von Erich Loest. Der Regisseur Frank Beyer (Spur der Steine, Wenn alle Deutschen schlafen) hat an Originalschauplätzen gedreht und sein 135minütiges Epos mit original Stasimaterial und anderen filmischen Dokumenten aus jener Zeit bereichert. In epischer Breite und historischer Dichte erzählt sein Film von Opportunismus und Verzweiflung, von Hilflosigkeit und Verwirrung.

In diesen Kraftfeldern behauptet sich die Kirche als Zentrum des geistigen Widerstandes, als Zufluchtsort. Die Konflikte spitzen sich zu. Personen werden zu Observationsobjekten, die Bruder-Schwester-Beziehung wächst sich zum Ideologiekonflikt aus, Hoffnung wandelt sich in Angst. Aus der Perspektive der Protagonisten rollt sich die Geschichte in ruhigem Erzähltempo auf und wird zum Erlebnisbericht. Eindrucksvoll schildert der Film diese Geschichten der Zerrüttung der Familie, den Aufruhr in den Köpfen und die Geschwüre verursachende Meinungsunterdrückung.

Doch am 9. Oktober kommt alles anders. Die SED erlaubt sich eine heimtückische Finte. Sie besetzt die Nikolaikirche mit männlichen Parteimitgliedern, denen zuvor noch ein Lehrgang in pietätvollem Benehmen zuteil wurde. Die Finte mißlingt. Die SEDler rutschen unsicher auf den Kirchenbänken, sind in der Folge umringt von den mit voller Inbrunst „Wir sind das Volk“ skandierenden Bürgern und stimmen schließlich ein.

Britt-Kristin Feldmann

Abaton