Finstere Kindheit

■ Literaturhaus: Die französische Autorin Paule Constant stellt ihren Roman über ein Kind im Dschungel vor

Manche Reisen führen gar nicht an ein Ziel, sondern in einen Zustand. Manche Orte sind nicht geographisch, sondern seelisch.

So scheint es der französischen Autorin Paule Constant mit der berüchtigten Strafkolonie Cayenne zu gehen, die sich, schwül, fiebrig, zugewuchert, am Flußdelta hält wie ein Stückchen gelblicher Auswurf. Gegen Ende der vierziger Jahre hat sie einige Jahre mit den Eltern dort verbracht, der Vater war Arzt.

Ihr 1994 veröffentlichter Roman Die Tochter des Gobernators beginnt nun mit einer Reise von Europa nach Cayenne. Die Zeit ist 1925, das Verkehrsmittel ein Ozeandampfer. Fremdkörper an Bord des Schiffes die Eltern des Mädchens. Der Vater, „der Schlächter von Ypern“ genannt, ein entstellter Held des 1. Weltkriegs, das Gesicht gespalten wie sein Verhältnis zur Menschheit, das Innere so brutal leer, als wären die Empfindungen durch seine Verletzungen ausgelaufen. Die Mutter ist als Krankenschwester eine herzlose, innerlich seltsam verbogene Florence Nightingale, der Engel aller Verletzten, die Pflegerin, der ganz egoistisch die Handlung des Pflegens wichtiger ist als die mögliche Genesung des Kranken. Ihre Ehe ein Zweckbund Entgleister: „Sie hatte ihn unter allen erwählt, weil er der Geschwächteste war, wünschte ihn sich sogar entstellt. Sie wurde nicht enttäuscht. Die Verletzung war schrecklich, die Gehirnschäden beträchtlich. Sie hatte ihn mit grenzenloser Hingabe gepflegt. Sie hatte ihn gelehrt, wieder zu gehen und zu sprechen, zu lesen und zu schreiben. Die ganze Zeit, als er blind, taub und stumm blieb, in dem trüben Wasser an der Grenze des Todes dahintrieb, las sie ihm aus der Bibel vor, die Psalmen. Zu sagen, er wachte als Bekehrter auf, wäre zu wenig: er war Gottvater geworden. Doch da sie ihn dazu gemacht hatte, war sie die Muttergottes.“

Die Frucht dieser furchtbaren Verbindung wird folgerichtig Chrétienne genannt, die Christin. Ein christliches Leben darf die bei ihrer Ankunft auf der Insel Siebenjährige allerdings nicht führen.

Aus dem nicht wirklich hehren Vorsatz der Eltern, den „Ärmsten der Armen“ helfen zu wollen, wird im Leben eine selbstzerstörerische Maschinerie der Geisselung und des Entsagens. Im Bagno setzt die Realzeit aus. Der Ort hat seine eigene Welt, in der das Kind alleingelassen wird.

Geheimnisvoll und spannend beschreibt Paule Constant die Odyssee eines Mädchens in die Tiefe des Fremdseins. Ihr Blick ruht auf der Hauptfigur wie auf allen, allwissend, und trotzdem ist die boulimische Wahrnehmung von Umwelt, das gierige Ansaugen von Sein aus Sicht des Kindes geschrieben, mit den Augen dieses Mädchens, für das der Abstieg in die Hölle zum Ende führt. Eine bis zur körperlichen Erschöpfung vernachlässigte Alice im Land der Schrecken geistert da durch das Bagno wie durch einen Alptraum, dessen Bilder sie aber alle so faszinieren, daß sie sich beim Sammeln der Eindrücke verzehrt. Nicht surreal ist Paule Constants Vorgehen dabei, obwohl die Gegenstände, die Bilder, die Beschreibungen sich längst verselbständigt haben. Vielleicht trifft – der passenderweise oft mit südamerikanischer Literatur verbundene - Begriff des „magischen Realismus“ am ehesten diesen Stil, in dem Ausgefeiltes neben Schrecklichem, bitterer Humor noir neben Szenen steht, die im Maßstab eins zu eins einem Kinderalptraum entsprungen sein könnten. „Cayenne 1949 - 1994“ schreibt Constant unter ihren Text, und vielleicht wiegen die dunklen Bilder inzwischen weniger schwer in ihr.

Thomas Plaichinger

Heute, 20 Uhr, Literaturhaus