Kleinstadt-Starletts außer Atem

■ Die Reihe „Sie zum Beispiel“ im Arsenal und Babylon geht mit Filmen von Paula Delsol, Storm de Hirsch u.a. zu Ende

Die Heldin in Paula Delsols französischem Spielfilm „La Dérive“, was soviel heißt wie sich treiben lassen, abdriften, ist eine Unbehauste. Die knapp 20jährige Jackie führt das Leben einer Streunerin mit Savoir-vivre. Anfang der 60er Jahre, als das Rauchen einer Zigarette auf der Leinwand noch als libertine Geste zelebriert wurde. „Tu n'a pas une cigarette?“ heißt es folglich hier in den einzelnen Szenen öfter als „bonjour“.

Unbekümmert und immer ein wenig à bout de souffle läßt die aparte Müßiggängerin sich treiben, von einem Liebhaber zum nächsten, von einer Zufälligkeit zur anderen. Jackie, eigentlich Jacqueline, hat sogar eine Familie, bei der sie zur Not unterschlüpft – die meiste Zeit aber reist sie mit ihrem Gitarristen-Freund durchs Land, als Anhalterin oder Kleinstadt-Starlett, eine fille perdue, eine, die sich verlaufen hat.

Paula Delsol, Romanautorin und einst Scriptgirl bei Truffaut, kam als Autodidaktin zum Kino. Der Debütfilm der 1923 in Hanoi geborenen Französin war in den Sechzigern, obwohl auf Festivals erfolgreich, offiziell erst ab achtzehn freigegeben – ein veritabler Skandal. „Ich glaube, daß Frauen sich eine falsche Vorstellung von sich selbst machen, weil es Männer sind, die sie im Film zeigen, und schlecht zeigen“, verteidigte sie ihren Film, der auf moralisierende Kommentare verzichtet und sogar ein sprödes Happy-End zuläßt. Die in sparsam-ästhetischem Schwarzweiß gefilmte Geschichte der Jackie – auf den ersten Blick dem mysteriös-verspielten Frauenbild eines Roger Vadim entsprungen – sah sie als filmische Momentaufnahme einer jungen Frau anno 1960. „Freiheit ist etwas sehr Schönes, aber man muß auch mit ihr umgehen können“, kommentierte sie die Suche ihrer Protagonistin nach sexueller Freiheit.

Unter dem pejorativen Titel „Treibgut“ als DEFA-Synchronisation vom DDR-Fernsehn nur in einer umgeschnittenen, also „gezähmten“ Version ausgestrahlt, ist der 1964 von der Regisseurin selbst produzierte Spielfilm eine Wiederentdeckung. Teil der Filmreihe „Sie zum Beispiel“ im Arsenal, für die Programmacherin Ute Aurand exemplarisch bekannte und unbekanntere Kurz- und Spielfilme zu „hundert Jahren weiblicher Filmgeschichte“ auswählte. Großzügig vom Künstlerinnen-Programm des Senats unterstützt, war es seit März 1959 möglich, 44 internationale Regisseurinnen teils nach Berlin einzuladen, und über achtzig, mitunter schwer erreichbare Filme zu zeigen. Das Spektrum reichte dabei von Agnès Vardas „Le Bonheur“ bis zu Niki de St. Phalle, Chantal Akermann, der Aktionskünstlerin Valie Export, Marguerite Duras' „India Song“ und dem Kultfilm „I'm no Angel“ von Mae West. Mit einem kleinen Festival im Babylon Mitte und im Arsenal endet nun die einjährige, vierzehnteilige Reihe.

Neben „La Dérive“, dessen mittlerweile 73jährige Regisseurin zur Vorführung erwartet wird, laufen drei Kurzfilme der Stummfilm- Pionierin Mabel Normand. Bereits mit einundzwanzig führte sie in zahlreichen, heute als Slapstick verkannten Eigenproduktionen Regie, machte ihre eigen Stunts und war als Komödiantin lange Zeit Filmpartnerin von Charlie Chaplin. Außerdem im Programm ist eine Kurzfilmserie der amerikanischen Independent-Filmerin Storm de Hirsch, die bis in die Siebziger zu den Stars des New American Cinema zählte, eine weitere wiederzuentdeckende Regisseurin also. Gudrun Holz

Sie zum Beispiel“. Heute bis Sonntag, Kinos Babylon und Arsenal. Termine siehe cinemataz