Zwei Waldbrände bei Tschernobyl

■ Rauchschwaden über den Reaktoren, aber "keine Gefahr" laut den Betreibern. Studie der Ärzte von IPPNW belegt: Radioaktivität in Kinderzähnen auch in Deutschland höher als vor der Katastrophe 1986

Berlin/Kiew (taz/dpa/AP) – Zwei Waldbrände sind am Dienstag mittag unmittelbar an den vier Atomreaktoren von Tschernobyl ausgebrochen. Nach einer trockenen und warmen Wetterperiode bestand in den Fichtenwäldern Brandgefahr. Als Ursache wurde von den örtlichen Behörden eine weggeworfene Zigarette angegeben: Wie jedes Jahr waren kurz vor dem Jahrestag der Tschernobyl- Katastrophe am 26. April 1986 ehemalige Bewohner in den evakuierten Dörfern zu Besuch. Sie gedenken auf den Friedhöfen mit Blumen ihrer dort begrabenen Angehörigen und dürfen aus diesem Anlaß offiziell in die 30-Kilometer- Sicherheitszone um das Kernkraftwerk einreisen.

Feuerwehrleute hatten nach acht Stunden mit Unterstützung von Hubschraubern die Flächenbrände unter Kontrolle gebracht. Ein Feuer war unmittelbar nördlich der evakuierten Stadt Pripjet ausgebrochen, über die nach Augenzeugenberichten dicke, grauschwarze Rauchwolken Richtung Kernkraftwerk hinwegzogen.

Der Brand bei dem Ort Nowoschepelitschi erfaßte etwa 40 Hektar Grasfläche und fünf Hektar Wald. Durch Pripjet reiste am Nachmittag eine Gruppe von Umweltschützern der deutschen Heinrich Böll-Stiftung. „Wir konnten den Rauch sehen und riechen“, sagten sie der dpa nach der Rückkehr nach Kiew. Ein zweiter Brandherd lag in dem seit zehn Jahren verlassenen Dorf Tolsty Les etwa zehn Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Hier brannten von 11.45 Uhr bis in die Abendstunden etwa 100 Hektar Grasfläche und mehrere Hektar Wald. Das Feuer erfaßte auch einige leere Häuser. Eine Brandgefahr für das Kraftwerk habe nicht bestanden, teilte der Schichtleiter in Tschernobyl, Andrej Bilik, mit.

In den 10.000 Hektar Wald im 30-Kilometer-Sperrgebiet sind Brände nicht selten (siehe auch Tschernobyl-Beilage der taz vom 29. 3. 96). Sie gelten als besonders gefährlich. Der Rauch schleudert radioaktive Partikel aus dem Holz der Bäume und aus der Erde in die Luft und kann sie aus der Sicherheitszone hinaustragen.

Die Folgen von Tschernobyl sind nach einer Studie des Professors Roland Scholz vom Otto- Hug-Strahleninstitut in München noch heute in Deutschland meßbar. Scholz untersuchte den Gehalt an radioaktivem Strontium-90 in Kinderzähnen aus verschiedenen Geburtsjahren. Diese Art von Strontium kann nur von der radioaktiven Wolke der Tschernobyl- katastrophe stammen. Die Ergebnisse stellen nun die Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) in einer Broschüre vor: Im Jahrgang 1987 war die Radioaktivität der Zähne mit 0,027 Becquerel zehnmal höher als im Jahrgang 1985. Zuvor hatte der Strontium-Gehalt in Milchzähnen seit 1980 kontiniuierlich abgenommen – Scholz vermutet als Folge des Stopps überirdischer Aomtests im Jahr 1963.

Der Leiter des Strahlenbiologischen Instituts der Uni München, Albrecht Kellerer, hält die erhöhte Strontium-Belastung als Folge von Tschernobyl für unwahrscheinlich. Nach der Katastrophe sei die Verseuchung mit Strontium niedriger gewesen als während der überirdischen Atomtests. Die hohen Werte seien daher vermutlich noch auf diese Tests zurückzuführen, sagte Kellerer. Kellerer tritt jedoch schon seit einigen Jahren als Abwiegler der Folgen von Reaktorkatastrophen in Erscheinung. Reiner Metzger

Die Broschüre „Vier Jahre/Zehn Jahre nach Tschernobyl“ gibt's bei IPPNW, Körtestr, 10, 10967 Berlin für 5 DM plus Porto