Von nun an wird Jeckepotz schweigen

■ Jude, Deutscher, Sozialist: Zum Tode von Arie Goral-Sternheim ein Nachruf von Kay Dohnke

Wo und wann immer in Hamburg öffentlich über den deutschen Faschismus – nicht nur der Nazi-Zeit – diskutiert wurde, fand sich mit großer Wahrscheinlichkeit ein vertrauter Zuhörer ein: Arie Goral. Meist kam er in behäbig-ausladendem Schritt heran, saß in einer der vordersten Reihen, den Kopf zur Seite gelegt, aufmerksam.

Wer ihn nicht kannte, mochte vielleicht durch die unweigerlich bis auf die äußerste Nasenspitze gewanderte Brille irritiert sein. Doch dieser Mann war nicht abgelenkt, wenn er die Augen schloß, fortschaute – spätestens seine Fragen, Einwürfe, Wortbeiträge verrieten den engagierten, den erfahrenen Menschen. Mitunter gab er Diskussionen eine völlig andere Richtung, wenn er sich voller Unmut dem nur allzu bekannten Gerede widersetzte, Herrschaft kritisierte, Ungerechtigkeit aufzeigte. Sein Platz auf dem Podium oder unten im Publikum wird künftig leer bleiben: Arie Goral ist, 86jährig, am 23. April gestorben.

Ein Leben in Daten und Stichworten: am 16. Oktober 1909 als Walter Sternheim geboren, Kindheit und Jugend im Hamburg der Kaiserzeit, bald schon in der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung aktiv, Kollisionen mit dem erstarkenden Faschismus. 1933 Emigration nach Frankreich, 1935 nach Palästina. Über Italien, wo er ab 1950 Kunst studierte, kehrte Goral 1953 nach Hamburg zurück. Als Maler, Graphiker und Schriftsteller wurde er im Kunst- und Kulturbereich aktiv, betrieb die „galerie uhu“ und die INTERGALERIE, stellte in anderen Städten eigene Werke aus. Noch zuletzt wirkte er als Vorsitzender des Beirats im 1988 gegründeten Jüdischen Museum in Rendsburg.

Bilder, Bücher – sie waren die Suche nach einer Form, die verbinden sollte, was sich so sehr zu widersprechen schien: Jude zu sein und Deutscher und Sozialist. Der kreative Ertrag – Lyrik, Gemälde, historische Analysen – wirft immer wieder auch Licht auf den Menschen dahinter. Am deutlichsten tritt Goral natürlich in seiner Autobiographie Jeckepotz in den Blick, doch auch die Bücher über Heinrich Heine, Carl von Ossietzky und Walter A. Berendsohn sind klare politisch-moralische Verortungen ihres Verfassers.

Das Leben Arie Gorals war ein politisches Leben – eines, das sich nicht um theoretische Fundierung mühte, sondern in unerschöpflich wirkender Kraft vorführte, wie sich Humanismus, Verantwortungsgefühl und Anteilnahme in aktivem Engagement verbinden können. Er bezog Position, zeigte Standfestigkeit, war in Handeln und Schreiben, Reden und Streiten authentisch. In den letzten Jahren zehrte die geistige Selbstaufgabe der Linken stark an seinem Optimismus.

Arie Goral lebte und handelte als Grenzgänger: nicht aus der Mitte heraus, sondern von einer Randposition her, die ihre Stärke dadurch bewahrte, daß sie immer wieder überprüft, in Frage gestellt, verteidigt wurde. Seine Kritik galt Grundsätzlichem, den großen Utopien und Hoffnungen von einem anderen und besseren Miteinander der Menschen. Geschichte – und vor allem: deutsche Geschichte – war für ihn nichts Vergangenes, sondern lebendiges Element von Persönlichkeit und Gesellschaft, das Stellungnahme fordert. Diesen Zusammenhang immer wieder bewußt zu machen, wurde er nie müde. Ein bedeutender Zeitzeuge, ein wichtiger Zeit-Genosse ist gegangen – künftig ohne ihn, allein mit seinen Schriften auszukommen, wird nicht leicht sein.

Beisetzung, 2. Mai, 11 Uhr, Jüdischer Friedhof Ohlsdorf, Illandkoppel