Stachanow bei der Weinernte

„Sondeur“, „CONstruktiv“, „Eselsohren“: Alle nach der Wende in Ostberlin gegründeten Literatur- zeitschriften sind eingegangen. Seit 1994 erscheinen „Sklaven“ und „Moosbrand“  ■ Von Peter Walther

Als im Herbst 1989 das Pressemonopol der DDR-Staatspartei hinweggefegt wurde, war es auch mit der heiligen Dreieinigkeit der Literaturzeitschriften Sinn und Form, neue deutsche literatur und temperamente vorbei. Zu den etablierten Blättern – Sinn und Form und die ndl haben bis heute überlebt – gesellten sich zahlreiche neue Literatur- oder Kurzfilmzeitschriften, die von dem Nachholbedarf an Publizität in der DDR profitierten.

Im Ostteil Berlins entstanden Zeitschriften wie Sondeur, CONstruktiv, Eselsohren bzw. Index und das Greif-Literaturmagazin (die letzten beiden reine Rezensionsjournale). Keine Neugründung war Kontext, eine Zeitschrift, die schon zu DDR-Zeiten in Tausender-Auflage mit Unterstützung der Kirche halblegal vertrieben wurde und im Juni 1990 die Rekordauflage von 10.000 Exemplaren erreichte. Darüber hinaus hatte sich das Magazin Litfaß damals gerade als Ost-West-Unternehmen wiedergegründet.

Keine dieser Zeitschriften hat überlebt. Zumeist waren es wirtschaftliche Zwänge im Zuge der Währungsunion, die zur Einstellung der Blätter führten. Die Kosten für Herstellung und Vertrieb waren mit einem Schlag enorm gestiegen. Und Opposition allein genügte als inhaltliche Basis nicht mehr. Dem Trend zur ästhetischen und politischen Profilierung hat sich keine Zeitschrift entziehen können, Richtungsstreitereien und ein sich rasch veränderndes Leseinteresse des DDR-Publikums waren weitere Gründe für das Zeitschriftensterben.

So nimmt es nicht wunder, daß das Sterben der Literaturzeitschriften selbst zum Thema einer Literaturzeitschrift wird. Klaus Michael hat in einem Exemplar der bedrohten Gattung sein „Plädoyer für Literaturzeitschriften“ publiziert. Moosbrand heißt das seltene Geschöpf, eines von zweien auf weiter Flur, beschränkt man den Blick auf den Ostteil Berlins.

Das Internet als Samisdat der Zukunft?

Michael beklagt in seinem Essay, daß mit dem Sterben der Literaturzeitschriften der „eigentlich literarische Bereich des Literaturbetriebes“, die „Domäne des Autors“, vom Untergang bedroht sei: „Über kurz oder lang wird das Austrocknen der Zeitschriftenlandschaft zu einer Schwächung der Position des Autors führen.“ Er deutet das Aussterben der Literaturzeitschriften als „Ausdruck der schlechten Konjunktur“ – eine wohltuend nüchterne Einschätzung angesichts des Geredes vom „Ende der Literatur“ und diverser Verschwörungstheorien. Heute gehe es darum, „nach erschwinglichen Möglichkeiten der Kommunikation und des literarischen Austauschs zu suchen (...) Vielleicht wird dann das Internet, die CD- ROM oder die Diskette zum Samisdat der Zukunft“.

Moosbrand enthält neben Essays und Literaturkritik in seinem Hauptteil vor allem kürzere literarische Texte sowie graphische Arbeiten. Zu den Autoren im aktuellen Heft zählen neben dem schon erwähnten Klaus Michael bekannte Namen wie Kurt Drawert, Elke Erb, Fritz Rudolf Fries, Barbara Köhler und Thomas Böhme. Allein die Gedichte von Herta Müller – Collagen von ausgeschnittenen Zeitungswörtern – lohnen die Anschaffung des jüngsten Heftes. Eines der Collage-Gedichte beginnt mit den Versen: „kleines rotes Obst fiel / Mutter durch die Stirn / wir aßen es und wurden rund / es war Blödsinn / aber keiner lachte“. Moosbrand ist jetzt zwei Jahre alt. Auf privaten Lesungen, die ein Freundeskreis um den Lyriker Lutz Seiler seit 1993 veranstaltet, wurde die Idee geboren, die gelesenen Texte zu sammeln und – versehen mit einer Originalgraphik – in kleiner Auflage Freunden und Bekannten zugänglich zu machen. Das erste Heft erschien im Frühjahr 1994 in einer Auflage von gerade 50 Exemplaren. Mittlerweile sitzt die Redaktion im brandenburgischen Wilhelmshorst, im Hause Peter Huchels, das über Jahre Redaktionssitz von Sinn und Form war.

Mit dem vierten Heft, steht das Unternehmen an einem Scheideweg. Da den Herausgebern die Kosten über den Kopf wuchsen, haben sie sich um eine Förderung durch das Land Brandenburg bemüht. Voraussetzung war jedoch, daß mit dem Heft eine größere Öffentlichkeit angesprochen werde.

So erscheint Moosbrand fortan im Halbjahresrhythmus mit professionellem Layout und aufwendiger Gestaltung in Gerhard Wolfs Verlag Janus press. Der Spagat, zu dem die Herausgeber gezwungen sind, kommt im Editorial zur Sprache: „Wie es uns gefällt“ heißt es dort – in trotziger Abwandlung von „As you like it“ – als Motto der vorliegenden Ausgabe. Hier soll nicht auf die Bedürfnisse eines imaginären Publikums hin geschrieben werden, sondern das Profil der Zeitschrift aus der Eigenart der Texte entstehen.

Nach einem Zeitschriftenprojekt, das Franz Jung schon 1927 plante, ist die monatlich im Verlag Basis Druck erscheinende Zeitschrift Sklaven benannt. Im Mai 1994 erschien die erste Nummer, mit der, so Mitherausgeber Wolfgang Kempe, der Versuch unternommen werden sollte, die zersplitterten Kräfte der DDR-Opposition neu zu bündeln. Ästhetischer und politischer Minimalkonsens sind Person und Werk von Franz Jung, dem Schriftsteller und Anarchisten. „Torpedokäfer“ hatte dessen Autobiographie einst heißen sollen, jetzt ist es der Name einer Kneipe in der Dunckerstraße am Prenzlauer Berg, wo die Herausgeber und ihr Anhang verkehren.

Der Verdacht, hier werde die Enge der literarischen Szene von einst kultiviert, kann mit Blick auf die Inhalte der Zeitschrift allerdings von der Hand gewiesen werden. Sklaven ist keine Literaturzeitschrift im engeren Sinne. Neben Prosa, Gedichten und Rezensionen sind Texte zur Geschichte der anarchistischen Bewegung, zur Wirtschaftsgeschichte und zur Historie des Geldwesens zu lesen. Breiten Raum nimmt die Beschäftigung mit Leben und Werk Franz Jungs ein. Kaum ein Heft, in dem nicht einer seiner Texte, ein Kommentar zu seinem Werk oder seiner Biographie abgedruckt ist.

In Sklaven findet man die abgelegensten Texte als Fortsetzung gedruckt: Etwa eine autobiographische Erzählung des sowjetischen Produktions-Anheizers Alexej Stachanow, der im Sommer 1935, zwei Jahre vor dem großen Terror, der Rede des großen Führers der Sowjetvölker lauschte: „Ich begann darüber nachzudenken, wie man die Weisungen des Genossen Stalin besser erfüllen kann. So reifte der Gedenke über den Rekord, ein Gedanke, den ich bald verwirklichte.“

Im Westen mehr Leser als im Osten

Illustriert sind die Seiten mit Propagandabildern von der grusinischen Weinernte und skurrilen Abbildungen damals aktueller sowjetischer Landwirtschaftstechnik. In bisher neun Folgen hat Klaus Wolfram die Geschichte der DDR-Opposition und des Wendeherbstes aus der Innensicht der eigenen Beteilung im „Neuen Forum“ skizziert. Er wirft sich und seinen Mitstreitern vor, den Willen zur Macht nicht aufgebracht zu haben. Dadurch seien die Möglichkeiten der Ostdeutschen zur Selbstbestimmung ausgegeben worden. Nun zögen sich „alle Strömungen und Mentalitäten (...) wieder auf sich selbst zurück. Politisch gesehen stellt sich die atomisierte Gesellschaft von vor 1989 wieder her.“

Sklaven ist fürwahr keine gefällige Bettlektüre. Die literarischen Beiträge in der Zeitschrift stammen zumeist von Autoren aus der ehemaligen Prenzlauer-Berg- Szene, ihren Freunden und Bekannten. Wawerzinek steuert sein amüsantes Reisetagebuch bei, Adolf Endler, der ehemalige Mentor der Szene, Reiseaufzeichnungen aus den USA, Papenfuß ist Mitherausgeber der Sklaven und häufig mit eigenen Texten vertreten.

Im neuesten Doppelheft ist ein kurzes Stück des Heiner-Müller- Freundes Lothar Trolle abgedruckt. Trolle besucht den Patienten Müller im Juli 1972 im VP- Krankenhaus und hat eine Vision. Schwester und Arzt interessieren sich nicht nur für den gestauchten Knöchel des Dramatikers, sondern auch für seine Arbeit. Für seine Schreibfaulheit fängt Müller permanent vorwurfsvolle Blicke von Arzt und Schwester ein. Als er nach Wochen den beiden freudig ein fertiges Stück präsentiert, nimmt das Geschehen eine unerwartete Wendung: „Krankenschwester: entledigt sich ihrer Schwesterntracht, steht plötzlich als Leutnant der VP im Zimmer (...) Arzt: entledigt sich ebenfalls seines Kittels, steht als Unterwachtmeister der VP im Zimmer.“ Was niemand mehr nachprüfen kann: Vielleicht war es wirklich so.

Zu den Beiträgern aus dem Osten gesellen sich vereinzelt Westautoren wie Helmut Höge, etwa mit der Fallsammlung „Wenn 68er scheitern“. Überhaupt sind die Sklaven kein Szeneblatt der frustrierten DDR-Opposition. Die Zeitschrift, die in einer Auflage von 750 Exemplaren erscheint, hat im Westen mehr Abonnenten als im Osten. Anders als beim gediegen gestalteten Moosbrand scheint das Layout der Sklaven eher das Ergebnis einer Optimierungsrechnung zu sein: Wie bekomme ich so viel Text wie möglich aufs Blatt? Den wahren Fan schockt das nicht, und wem Lesekomfort wichtig ist, wird das Blatt ohnehin als Zumutung verwerfen. Selber schuld!

Moosbrand : Einzelheft 15 DM. Im Buchhandel und bei Janus press, Oranienstraße 164, 10969 Berlin.

Sklaven : Einzelheft 5 DM, Doppelheft 8 DM. Im Buchhandel und bei Basis Druck, Telefon: 445 76 80.