„Genauso schräg wie in Wuppertal“

Die AVE, „Modemesse für Gläubige“, hat von Kunstrasenkleidern die Nase voll. Was als einmalige Gegenveranstaltung geplant war, ist seit neun Jahren tonangebend für die Szene  ■ Von Thomas Enslein

Eigentlich hatte eine erneute Vaterschaft Organisator Kai Heimberg derart mitgenommen, daß er sich außerstande sah, die diesjährige Frühjahrs-AVE mitauszurichten. Glücklicherweise hatte er sich dann doch noch darauf einlassen können, zumindest eine abgespeckte Version des Szene-Modespektakels mit auf die Beine zu stellen. Zum neunten Mal öffnet die AVE heute abend ihre Pforten – diesmal nicht als Messe, sondern als Show pur mit Party im Anschluß.

Zwar gibt es diesmal nichts zu kaufen, dafür um so mehr zu sehen: Mit von der Partie sind wieder viele AVE-Altstars wie Respectmen, die ihre bunten Männerphantasien für den Sommer präsentieren oder Jörg Pfefferkorn, der seiner Leidenschaft für alte Gardinen frönt. XUR, alias Michael Schermons wird wieder zahlreiche Damen mit seiner Latexpaste bepinseln und AVE-Neulinge, wie etwa Katja Mossina, wird es vor Lampenfieber vermutlich fast zerbröseln – fast wie damals, als alles angefangen hatte.

Es war im März 1988, als die Heimbergs und ihre Unterstützer das erste Mal ihre „Modemesse für Gläubige“ abhielten. Zum Debut noch in einem Moabiter Hinterhof „mit irgendwelchen Pubsbands und Striptease-Einlagen“, wie Gabi Heimberg sich verschwommen, aber nicht ungern erinnert. Zu den ehrenvollen Aufgaben der Veranstalter gehörte damals auch das Brötchenschmieren und Fegen. Zuvor hatten sich die Heimbergs ausgiebig über die damalige, als Alternativmodemesse annoncierte „Off-Line“ geärgert. „In ihren Anfängen in den frühen Achtzigern war die Off-Line noch mit dem Anspruch angetreten, ein Gegenstück zu den damals gängigen Langweilermessen zu bieten. „Damit ging's allerdings ziemlich schnell die Wupper runter“, erinnert sich Kai Heimberg. „Von einer Kreuzberger Fabrikhalle zogen die Veranstalter nach der zweiten oder dritten Schau gleich ins ICC. Und da hat es eigentlich dann auch gar keine Rolle mehr gespielt, was genau die Designer überhaupt fabrizierten. Hauptsache, sie haben brav für ihren Stand bezahlt.“

Erschwerend kam hinzu, daß die auf der Off-Line vorgeführten Kreationen sich allenfalls graduell vom gängigen Konfektionseinheitsbrei à la C&A unterschieden. Nicht aus purem Zufall fand die erste AVE im März 1988 deshalb am gleichen Wochenende statt wie die Off-Line. „Ich wollte einfach mal zeigen, daß so was auch ganz anders laufen kann“, erklärt Gaby Heimberg ihre damaligen Ambitionen. Die AVE, von den Heimbergs zunächst als einmalige Gegenveranstaltung zur Off-Line geplant, entwickelte sich dann aber zu einer Art privatem Steckenpferd und beim Publikum in den Folgejahren zum Selbstläufer.

Von „Avantgarde“ oder gar „Off-Mode“ mögen die Heimbergs und Marketingassistent Arne Loh inzwischen nichts mehr hören, obwohl die AVE seit Jahren für ihren ausgeprägten Hang zum Szeneklimbim bekannt ist. „Off-Mode? Was soll das sein?“, fragt sich Gaby und verdreht die Augen. „Schrill! Schräg? Bunt? Das sind alles Vokabeln, die haben wir aus unserem Wortschatz gestrichen. Wir haben von uns selbst auch nie behauptet, ,avantgardistisch‘ oder ,off‘ zu sein, geschweige denn, daß wir den Anspruch haben, die neuesten Trends zu präsentieren. Kleider aus Kunstrasen und solchen Kram hat es bei uns wahrlich schon genug gegeben“, meint Kai. Vielmehr gehe es ihnen heute darum, eine Plattform für ambitionierte Jungdesigner bereitzustellen, damit diese sich in einer Form präsentieren können, die für einen allein ohne weiteres nicht finanzierbar wäre. „Wir stellen jedem Designer eine Supertechnik zur Verfügung, haben eine klasse Bühne und Models satt und das für 650 Mark pro Platz – was will man mehr?“, fragt sich Arne Loh.

Obwohl sich in Berlin allerhand Kreativ-Volk tummelt – über 150 Jungdesigner werfen allein die sechs Berliner Modeschulen jährlich auf den Markt, daneben haben sich zahlreiche Schneiderlinge und Autodidakten unter die Kreateure begeben – scheint es dennoch nicht einfach zu sein, die 18 Plätze einer AVE zu füllen. „Das meiste, mit dem die Leute ankommen, ist nur so Technokram und anderer nachgebauter Scheiß“, erzählt Gaby Heimberg reichlich entnervt. Und so kommt es, daß man bei jeder AVE trotz der großen Zahl von Bewerbern auf viele alte Bekannte trifft, die teilweise auch schon von Anfang an dabei sind. „Denn diejenigen, die in irgendeiner Form Qualität liefern, sind irgendwie immer dieselben.“

Vielleicht liegt es am eisigen Wind, der derzeit in der Modewelt weht, daß nachwachsende Jungdesigner heutzutage allzugerne auf Bewährtes zurückgreifen, sprich kopieren und zitieren, was das Zeug hält, anstatt die eigenen grauen Zellen ausreichend zu bemühen. Die unbeschwerten Zeiten, in denen man seiner Phantasie noch freien Lauf lassen konnte – unabhängig von der Verkaufbarkeit des Resultats – sind, so scheint's, lange vorbei. Sogar Fachblätter wie etwa die Frankfurter Textilwirtschaft jammern oft und gerne über die seit Anfang der Neunziger stetig schrumpfenden Umsätze. Einem Überangebot an Textilien jeglicher Art stehen die maroden Geldbeutel der Verbraucher gegenüber. Speziell in Berlin ist das Modeinteresse im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten wie Hamburg oder München ohnehin schon immer recht mager gewesen.

So präsentiert sich die AVE heute auch nicht mehr als Niederkunft extraterrestrischer Visionen oder Quell unendlicher Kreativität, sondern ist vielmehr ein Tummelplatz bestimmter Modeszenen, die sich auf den betulicheren Berliner Schauen nicht besonders wohl fühlen und dort auch ihr Publikum nicht finden. Wie etwa bei der halbjährlichen Fashion im Logenhaus oder den vom Kreuzberger Designerladen Molotow inszenierten Defilees. Nur sehr vereinzelt sind auf der AVE noch Kreationen aus Duschvorhängen oder ähnliche Sperenzchen zu sehen.

Auch unterscheiden AVE-Designer sich heute nicht mehr grundsätzlich von denen, die auf anderen Berliner Schauen zu sehen sind – sie haben lediglich einen anderen Geschmack und eventuell einen etwas ausgeprägteren Hang zu Selbstdarstellung. „Ansonsten gibt es da keine großen Unterschiede. Berlin wird im Grunde immer maßlos überschätzt und seinem Image von Schrägheit auch gar nicht gerecht, weil es hier genauso schräg ist, wie in Wuppertal“, meint Arne X.

AVE Modemesse, Show und After- Party, heute um 21 Uhr in der Arena in Treptow