■ Ehrenamtliche Tätigkeiten bei der Deutschen Bahn
: Der Abknispler des „nicht“

Was ist das eigentlich für ein Kerl, der immer auf Achse ist, von einem Zug in den anderen steigt, die Toiletten abklappert und überall bei dem Schildchen mit der Aufschrift „Während des Aufenthaltes auf den Bahnhöfen ist die Benutzung des WC nicht gestattet“ mit dem Fingernagel das Wort „nicht“ abknispelt? Ich schätze, daß er inzwischen knapp 80 Prozent aller Zugtoiletten aufgesucht und dort sein Knispelwerk verrichtet hat. Zusätzlich schätze ich, daß sich hinter dem Knispler ein ausgewachsener Doofmann verbirgt.

Und noch eine Bonusschätzung: Der doofe Knispler führt ein tristes Leben. Morgens pulscht er seinen Kaffee hinab, feilt den Knispelschagel scharf und klemmt sich das Kursbuch unter die Achsel. „Schatz, du mußt dich beeilen“, ruft das Knisplerweibchen. „In zehn Minuten fährt dein Zug!“ Und schon hastet der Doofmann zum Bahnhof, reist nach Hambug, München, Dresden, Elsterwerda, Paderborn und sonstwohin und geht auf den Zugtoiletten kichernd und knispelnd seiner ehrenamtlichen Tätigkeit nach. Abends schlurft er wieder heim. Zersplittert und ausgefranst ist sein Fingernagel. „Hattest du einen schönen Tag, Schatz?“ schreit das Weibchen. „Ich habe eine Überraschung für dich!“ Es gibt Buchstabensuppe. In der Terrine schwimmt der Satz: „Während des Aufenthaltes auf den Bahnhöfen ist die Benutzung des WC nicht gestattet.“ Gierig frißt der Knispler das „nicht“ auf. Und kichert in sich hinein. Wenn Tristesse weh täte, würde er vor Schmerzen schreien.

Ob die Deutsche Bahn wohl eine Belohung für die Ergreifung des Abknisplers des „nicht“ ausgesetzt hat? Da ich gerade mit Herrn Rudolf von Berlin nach Jena reise, im Intercity Clara Schumann, ist die Gelegenheit günstig, Näheres zu erfahren. „Entschuldigen Sie“, sage ich zum Schaffner, „können Sie mir verraten, ob die Deutsche Bahn eine Belohnung für die Ergreifung des Abknisplers des ,nicht‘ ausgesetzt hat?“ Der Schaffner starrt mich lange an. Schließlich tippt er sich an die Stirn und verduftet einfach.

Kein Wunder – als ich die Toilette aufsuche, lacht mir dort das „nicht“ vollständig unabgeknispelt entgegen. Wenn der Knispler sich an Clara Schumann noch gar nicht vergangen hat, kann der Schaffner natürlich nicht wissen, worum es geht. Anschließend begibt sich Herr Rudolf auf die Toilette. Es donnert, rummst und gurgelt, und drei Stunden lang wird dieses WC von allen anderen Passagieren strikt gemieden. Dann muß ich aber leider wieder hin. „Während des Aufenthaltes auf den Bahnhöfen ist die Benutzung des WC gestattet“, steht auf dem Schild. Das „nicht“ ist abgeknispelt.

Sofort stelle ich Hern Rudolf zur Rede. „Schon gut, schon gut“, meckert er frech, „dann bin ich eben der Abknispler des ,nicht‘. Na und? Ist doch lustig! Ha! Ha! Ha!“ – „Schon beim ersten Mal nicht“, erwidere ich, „und ganz bestimmt nicht beim dreißigtausendsten Mal!“

„Wohl! Das wird immer ein Brüller bleiben! Während des Aufenthaltes auf den Bahnhöfen ist die Benutzung des WC gestattet – ha, haha, harharharhar...“ Er wischt sich die Lachtränen aus der Kimme. „Darüber könnte ich mich mein Leben lang beömmeln: Außerdem habe ich nichts anderes gelernt.“

Das Geheimnis ist gelüftet. Jetzt, wo er geoutet ist, zeigt Herr Rudolf gegen eine Gebühr von zwei Mark allen Intessierten gerne seinen abgewetzten Nagel vor – neben dem Brandenburger Tor, dem Kölner Dom, dem Zwinger und der Reeperbahn ist dieser Knispelnagel eines der Wahrzeichen deutscher Kulturgeschichte.

Das sollten Sie sich nicht entgehen lassen. Gerhard Henschel