Die Osnabrücker Erfahrung

Versuch über die (Post-)Pubertät: Andreas Mands „Kleinstadthelden“ beschreibt primäre Verstrickungen in Schlafsäcke und Steinwürfe  ■ Von Thomas Groß

Ballistisch gesehen ist der Stein ein unkompliziertes Geschoß – man muß ihn nur in die Hand nehmen und werfen. Denkt der Laie. Wer Profi sein will, läßt allerdings auch hier ein gewisses Maß an Know-how walten: „Ich fand es unglaublich, wie sachlich, handwerklich quasi, sie die richtige Größe ihrer Wurfgeschosse erwogen. ,Der nicht, der hält nicht ..., der ist gut, liegt gut in der Hand.‘“

Zen oder die Kunst, eine Fensterscheibe einzuschmeißen – bei Andreas Mand, Jahrgang 59, ist sie ebenso beschrieben wie das sachgemäße Färben schwarzer Windeln, die malerischste Art, öffentlich ein Wagenbach-Taschenbuch zu lesen, oder die nicht zu unterschätzende Fertigkeit, zu rülpsen und dabei „Buback“ zu sagen.

Zusammengenommen ergab das mal fast einen Politisierungsprozeß. „Kleinstadthelden“, Mands jüngster Roman, spielt Ende der Siebziger/Anfang der Achtziger in Osnabrück, könnte aber genausogut in Freiburg, Münster oder Detmold spielen: Das Wissen von 68 liegt noch in der Luft, hat mit den Jahren auf seinem Weg von den Zentren in die Provinz aber fast sämtliche Qualitäten als Masterplan eingebüßt. Um es den Händen der Sozialarbeiterklasse zu entreißen, bedarf es der erneuten Auslegung, einer lebenspraktischen Reformation, die mehr Slogan ist als Denkgebäude, mehr direkte Aktion als Ableitung. Von Revolution wird zwar noch geredet, aber an den individuellen „Bedürfnissen“ führt kein Weg vorbei. Und die verlangen nach Spielräumen: Häuser besetzen, Miete nicht bezaaaahlen.

Es ist die zweite Welle der Hausbesetzungen, die den Hintergrund abgeben für Gedanken, Worte und Werke des 21jährigen Helden Paul Schade. Schade, Mands Alter ego, muß mit einer Situation klarkommen, in der die Großtaten der holländischen Kraaker bereits Asta-Film geworden sind, der im Jugendzentrum auf ein zerknittertes Bettlaken projiziert wird. Zwar bringt der Held es mit den „Bürokratischen Anarchisten“ zu diversen Aktionen, unter anderem zwei Kirchenbesetzungen, zwar ist er in einer Steinwurfnacht dabei (und bekommt dafür ein Verfahren angehängt), doch es ist nur Handwerk der Revolte, und der Aktivist ist immer zugleich Statist.

Paul und Ursi tun es

Die identitätsstiftenden Kräfte, die aus derartigem Engaschemang zu gewinnen wären, bleiben vergleichsweise bescheiden – in der Kleinstadt sind eben noch die Punks getarnte Jazzmusiker, die sich ein wenig Brisk in die Haare geschmiert haben. Schade finanziert seinen progressiven Alltag per Bafög, seine Wäsche schickt er mit der Bundespost nach Hause, und nicht umsonst benennen sich die Bürokratischen Anarchisten aus Frust in „Randgruppe“ um. Die Osnabrücker Erfahrung: „mit staubigen, dekorativ hochstehenden Haaren in die Mensa zu kommen und die Studenten zu beeindrucken ... oder wenigstens einzuschüchtern ... in der Fußgängerzone wie eine aufgedrehte Chaplinfigur mit den selbstverfaßten Flugblättern zu tanzen ... pelzbehängten Bürgertussis witzige Beleidigungen hinterherzurufen ...“

Witzig? Mand beschreibt die Jahre, die man (noch) kennt, aber nichts scheint so vergangen wie gerade diese Versuche von Bürgerkindern, Bürgerschreck zu mimen – eine Sachlage, die den Autor bei der Rekonstruktion des Frühachtziger-Politvokabulars nicht ohne ganz viele Anführungsstriche auskommen läßt. Letzte Ausfahrt Postmoderne: Es geht den Kleinstadthelden darum, die Passanten „aus der Konsumhaltung zu reißen“, „unsere Kaputtheit und Entfremdung“ zu formulieren, „schöpferisch“ mit Widersprüchen umzugehen, „unsere Kraft und Zärtlichkeit“ zu beschwören, „Perspektiven des Widerstands vor Ort“ zu skizzieren, Aktionen „vermittelbar“ zu machen, das alles „im Kopf erst mal klarzukriegen“, damit „endlich Betroffenheit entsteht“.

Juvenilismus à gogo

In den Dialogen und O-Ton-Passagen ist Mands Roman eine Archäologie des Jargons, die mit viel Hingabe an die Irrtümer, Anmaßungen und Fehleinschätzungen des Personals betrieben wird. Nie scheint das Mißverhältnis zwischen sozialrevolutionärem Anspruch und sektenhaftem Versacken in Resolutionen, Proklamationen, Vollversammlungen und Exkommunikationen eklatanter gewesen zu sein als bei so harmlosen Figuren wie Paul, Ursi, Moni, Günther, Astrid und Klotz – dieser letzten Generation vor dem großen Anything goes. Die Nischen, die sie sich in Osnabrücker Hinterhäusern geschaffen haben, sind Kuscheldecke und Intimitätsterror zugleich, und was „bürgerkriegsähnliche Zustände“ in Europa sind, haben die letzten fünf Jahre zurechtgerückt.

Paul Schade weiß noch nichts davon, wohl aber Andreas Mand, der seinen Helden am Ende hart aus dem kurzen Sommer des darlehensfreien Bafög entläßt. „Kleinstadthelden“, Mands erstes Buch bei einem größeren Verlag, ist eine Art Quersumme seines großen Themas: weißer, männlicher Juvenilismus unter den Bedingungen monolithisch verkoteter repressiver Toleranz. Und er rückt ihm so gründlich zu Leibe wie noch nie. Wo der Berliner Michael Wildenhain es immer wieder schafft, dem Besetzer-Blues eine expressionistische Note unterzujubeln, und Reinhard Mohr den „78ern“ eine verplauderte Soziologie hinterherschickt, geht Mand noch einmal zurück zu den primären Verstrickungen in Schlafsäcke, Steinwürfe, Wasserrohrbrüche und unbenutzte Pariser: „Ich war eben doch ein junger Intellektueller, einer, der die Bildungsbürgerreste mit verzerrten Gitarren unterlegte. Mein Musikgeschmack war nur anders, aber bestimmt nicht schlechter als der von meinem Vater ... Meine vorläufigen Idole waren amerikanische Sänger, Widerstandskämpfer im Dritten Reich und dann vielleicht noch die paar 68er, die nicht Lehrer oder Lektoren geworden waren.“

Damit ist dieser schon in „Haut ab“ (1982) und „Das rote Schiff“ (1994) abgebildete biographische Hintergrund allerdings endgültig ausgeschrieben. Für weitere Versuche über die (Post-)Pubertät gilt sowohl autorenstrategisch als auch subversionstheoretisch die letzte Zeile des bekannten Reed/Cale- Songs, mit dem der Ammann-Verlag für seine jüngste Entdeckung wirbt: „There's only one good use for a smalltown / You hate it and you know you'll have to leave.“

Andreas Mand: „Kleinstadthelden“, Ammann 1996, 313 Seiten, 36 DM