Das Museum als Trojanisches Pferd

Die Moskauer bewundern die Zielstrebigkeit von Troja-Entdecker Heinrich Schliemann mehr als seinen „Schatz des Priamos“: Das Puschkin-Museum zeigt 260 der Sammlungsstücke  ■ Von Barbara Kerneck

Einige Moskauer RentnerInnen hatten die Zeitungsvorberichte zur Eröffnung der Ausstellung „Schätze Trojas aus den Grabungen Heinrich Schliemanns“ als persönliche Einladung aufgefaßt. Während am Dienstag, den 16. April, im Puschkin-Museum nur wenige handverlesene Gäste und Diplomaten von Direktorin Irina Antonowa (75) empfangen wurden, mußte ein nervenstarker Milizionär am Eingang die kleine, aber giftspeiende Menge der Enttäuschten auf „morgen“ vertrösten. „Weil ich hier arbeite, habe ich schon alles gesehen“, sagte er, „ich verstehe nicht, warum soviel Geschrei um diese Ausstellung gemacht wird. Meiner Ansicht nach nur, weil das Zeug so alt ist.“

Das sonst gut besuchte Puschkin-Museum ist trotzdem selbst am Wochenende nicht überlaufen. Wie es sich für einen Schatz aus der antiken Unterwelt gehört, müssen die BesucherInnen auf dem Weg zu ihm eine Zerber-Russin überwinden. Die Mittvierzigerin hält ein Lineal von 25 Zentimetern Länge in der Hand, um damit die Damenhandtaschen zu messen. Liegt eine nur Millimeter über der Norm, heißt es: ab damit in die Garderobe! Meinen Hinweis, daß auch in der Hand gehaltene Aufnahmegeräte Minibomben enthalten könnten, beantwortete die Zerber-Russin in der antiken Tradition der Stoiker: „Das interessiert mich nicht. Ich tue hier nur, was mir gesagt wird.“

In nur einem verdunkelten Saal bieten sich die viereinhalbtausend Jahre alten Exponate dem Blick schlicht auf schwarzem Samt dar. Aus von innen beleuchteten Glaskuben funkeln die 260 Schmuckgegenstände, bekannt auch als „Gold des Priamos“, eher blechern. „Wie Wodkaflaschenverschlüsse“, bemerkte ein Betrachter. Es fehlt in der Ausstellung jeder Hinweis auf die dramatische Geschichte dieser Beutekunst oder auf den Umstand, daß sich gleich vier Staaten um sie streiten: Deutschland, Rußland, Griechenland und die Türkei. Dennoch scheinen die MoskauerInnen gut über den Streit informiert zu sein, wie sich bei Gesprächen immer wieder herausstellt. Sie wissen auch, daß russische Politiker das Puschkin-Museum selbst fast 50 Jahre lang in ein Trojanisches Pferd verwandelt hatten, indem sie den Schatz in dessen Gewölben geheimhielten.

Am meisten scheint sich das Publikum im Puschkin-Museum für reich mit Halbedelsteinen bestückte Kultbeilchen und komplizierte Schläfengehänge zu begeistern. Angesichts der übrigen Schätze, um die Moskau und Berlin derzeit Kämpfe führen (s. taz, 15.4.), stimmt es jedoch dem Milizionär zu: „Die Freude an ihrem Anblick ist nicht vom Wissen um ihr Alter zu trennen.“

Mit antiken Klunkerchen sind die RussInnen ziemlich verwöhnt. Der vieltausendteilige Goldschatz der Skythen aus dem Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung kennt an Glanz, Schönheit und handwerklicher Virtuosität kaum seinesgleichen. Er liegt zum Großteil in der Petersburger Eremitage. Erst vor zwei Jahren wurden im Hochaltai- Gebirge an der mongolischen Grenze Kostbarkeiten aus einer bis dahin kaum bekannten Reiterkultur namens „Payryk“ aus dem fünften Jahrhundert vor Christus ausgegraben. Die hochaltaiischen Eingeborenenstämme verhalten sich inzwischen schlauer als die Türken zur Zeit Schliemanns. Sie rieten den hauptstädtischen Archäologen, nicht weiterzugraben, wenn ihnen ihr Leben lieb ist.

Die Persönlichkeit Schliemanns entspricht den postsowjetischen Idealen: Unternehmertum und Zielstrebigkeit. Daß er bei seinen Grabungen mehrere Kulturschichten zerstörte, nimmt man ihm hier nicht weiter übel. Überhaupt fehlt es an Dokumentationsmaterial zur Archäologie und der Herkunft der Schmuckstücke. Das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte, dem dieser Schatz, juristisch betrachtet, nun einmal gehört, wollte sie für diese Ausstellung ausleihen. Aber die Puschkin-Direktorin blieb abweisend und behilft sich nun, indem sie in zwei Nischen des Saales mittelmeerische Gefäße der gleichen Epoche präsentiert – aus eigenen Beständen.

Daß es sich bei dem von Schliemann ausgegrabenen Ort kaum um Troja handeln dürfte, war allen hier entgangen. Und auch Homer kennen die meisten eher vom Hörensagen. In der Ausstellung treffe ich lediglich einen zehnjährigen Schüler, der die Ilias auszugsweise gelesen hat. Was die Rückgabe der Altertumsstücke anbelangt, sind sich die Leute uneins. Einige ältere AusstellungsbesucherInnen vertreten den Standpunkt, man müsse den Schatz „anständigkeitshalber“ an Deutschland zurückgeben. Die Jüngeren aber halten sich an den neurussischen Zeitgeist: Was man hat, das hat man. „Los, sucht das Bernsteinzimmer! Und wenn ihr es wieder zusammengeschraubt habt, dann können wir reden“, so das Urteil eines 35jährigen Lehrers.

Seit Dezember beherrschen rot- braune Großmachtideologen bereits die Duma. Und angesichts des ungewissen Ausgangs der Präsidentenwahlen beschäftigt die Restitution von Goldschätzen heute auch die weltoffensten BürgerInnen Rußlands kaum. Als ein Kenner der Szene spricht der Archäologe Andrej Subbotin vom Sankt Petersburger „Institut für Geschichte der materiellen Kultur“: „Vorerst besteht keine Eile, diese Dinge zurückzugeben. Wir sollten noch fünf oder zehn Jahre warten. Unter uns Museums-Leuten hier hat sich inzwischen das Prinzip durchgesetzt: Alles, was in ein Museum geraten ist, soll auch drinbleiben. Die Restitutionsfrage ist nämlich auch ein Problem innerhalb der GUS. Da wollen die Ukrainer von uns das Gold der Skythen zurückhaben, obwohl sie ebensowenig Skythen sind wie wir Russen.“

Im Hinblick auf die deutsch-russischen Verträge von 1990 und 1992, in denen man sich gegenseitig die Restitution aller Beute- Kunstwerke versprach, deutet der Archäologe an, daß das Verhältnis zum Völkerrecht durchaus geopolitischen Schwankungen unterliege: „Wir sind hier in Asien, und der asiatische Beamte bläst mit Vorliebe seine Backen auf, um zu erklären: O ja, die internationalen Verträge, die erfülle ich natürlich.“ Strikter drückte es der Vater des zehnjährigen Homer-Lesers aus: „Wenn es so einen Vertrag gibt, dann müssen wir ihn eben ändern.“

Zur Moskauer Ausstellung erscheint der deutschsprachige Katalog: „Der Schatz aus Troja“, 288 S., Belser Verlag Stuttgart, 78 DM