■ Querspalte: Hier schreibt der Chef
Kürzlich klingelte es mal wieder morgens um zehn. Weil ich den Briefträger vermutete, öffnete ich, ohne nachzuschauen, und wartete an der Treppe. Es schnaufte fürchterlich (90 Stufen), dann stand er vor mir: Bundeskanzler Helmut Kohl persönlich. Er müsse mal mit mir reden.
Lange saßen wir im Wohnzimmer, und als er ging, wußte ich: Ja, diese Einsparungen sind wirklich nötig, wir können den Standort Deutschland anders nicht retten. Ich dankte ihm, brachte ihn noch zur Türe und sah, wie er bei Pommerenkes drüben läutete.
Offensichtlich war ihm das aber auf Dauer zu mühsam. Denn gestern hat der Kanzler, statt direkt vorbeizukommen, allen anderen Deutschen einen sehr persönlichen Brief geschrieben („Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!“). Weil ihm die Postgebühren seines Ministers wohl zu teuer sind, ließ er ihn in der Bild-Zeitung veröffentlichen, was nicht nur Porto, sondern auch eine Menge Müll einspart.
Sollte jemand gestern nicht Bild-Zeitung gelesen haben, nur so viel Zitat: „Ich vertraue darauf, daß die meisten von Ihnen das verstehen ...“ Verstehen vielleicht, aber kapieren nicht, da mußt du schon selbst vorbeikommen, Helmut!
Vor wenigen Wochen (und kurz vor den Landtagswahlen) schrieb der immer regierende Kanzler an alle Rentner der Republik, alles sei in Ordnung mit den Renten und noch genügend Geld in der Kasse. Vor wenigen Tagen (und kurz vor der Volksabstimmung) schrieb der bisweilen regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, an alle Hauptstädter, der Zusammenschluß von Brandenburg sei auch ein „Gebot des Herzens“.
Der auch noch regierende Stolpe hat es da einfacher: Bei der Einwohnerdichte seines Landes kann er mit jedem einzeln sprechen. Überhaupt: Man sollte keinem Politiker mehr die Stimme geben, ehe dieser nicht im persönlichen Gespräch überzeugen konnte, warum. Ich muß hier aufhören ... es hat soeben wieder geklingelt. Philipp Maußhardt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen