■ Der palästinensische Nationalrat annulliert seine Charta
: Ein weiser Beschluß

Arafats Taktik ist wieder einmal aufgegangen. Er kennt seine Pappenheimer. Und er weiß, an welchen Strippen er ziehen muß, um sich freie Hand zu verschaffen. Die hat er jetzt. Die faktische Annullierung der alten Charta gibt Arafat genügend politischen Spielraum für die im Mai beginnenden Verhandlungen über den dauerhaften Status der palästinensischen Gebiete. Genau das fürchten seine Kritiker – daß Arafat, wie schon bei den Verhandlungen in Oslo, Zugeständnisse macht, die über das als erträglich und notwenig Empfundene weit hinausgehen.

Dennoch ist die Entscheidung des Nationalrats weise und verantwortungsbewußt – sowohl gegenüber Israel als auch gegenüber dem Friedensprozeß. Der formale Verzicht auf die alten, überlebten Maximalforderungen ist der Mehrheit der Delegierten offensichtlich leichter gefallen, als es die Führung erwartet hatte. Der große Krach ist ausgeblieben.

Die neue Charta soll unter Berücksichtigung der UNO-Beschlüsse zu Jerusalem und den israelischen Siedlungen ausgearbeitet werden. Die Siedlungen sind danach genauso illegal wie die Annexion Jerusalems durch Israel. Von Bedeutung für kommende Verhandlungen ist auch die UNO-Resolution 194. Sie garantiert den palästinensischen Flüchtlingen das Recht auf Rückkehr oder Entschädigung. In der Grenzziehung hat sich der Nationalrat längst für die Waffenstillstandslinien von 1948 entschieden. Der Rückgriff auf die UNO-Beschlüsse und die Resolutionen 242 und 338 war ein Zugeständnis an Arafats Kritiker, eine Rücksichtnahme auf die palästinensische Befindlichkeit, ein kleiner Stachel gegen Israel.

Genau dies macht es wenig wahrscheinlich, daß eine neue Charta schon bald vorliegen wird. Sie würde Arafats Verhandlungsspielraum wieder Fesseln anlegen, die er gerade erst abgeworfen hat. Die Nervosität auf seiten der palästinensischen Führung und die auffällige Lethargie der Delegierten auf diesem Nationalrat haben eine Kluft offenbart, die so schnell nicht überwunden werden wird. Die Führung traut der Basis nicht mehr und die Basis nicht mehr der Führung. Die Delegierten wollen endlich mehr Demokratie und mehr Partizipation, die ihnen auf dieser Sitzung noch einmal verwehrt wurde. Noch ist Arafats Zeit nicht abgelaufen. Aber die Götterdämmerung hat begonnen. Georg Baltissen