■ Den Ton der Debatte über Tschernobyl dürfen nicht die bestimmen, deren Aufgabe die Förderung der Atomenergie ist
: Makabre Zahlenspiele

Es ist ein unheimlicher Schlagabtausch. Zehn Jahre danach ringen Anhänger und Gegner der Atomenergie um die Interpretationshoheit über die Folgen des Tschernobyl-Desasters. Gezählt werden die Toten, nicht aber die Millionen, die mit der Katastrophe leben müssen, bis an das Ende ihrer Tage. Wer darüber jammert, jammert zu Recht – und wird an dem traurigen Schauspiel doch nichts ändern können. Denn bei aller nervtötenden Ritualisierung der Auseinandersetzung um die toten Toten und die noch lebenden Toten – am Ausgang dieses Streits wird sich auch entscheiden, ob die Energieerzeugung mittels Kernspaltung noch eine Zukunft hat.

Die Internationale Atomenergiebehörde IAEO in Wien, deren vornehmste Aufgabe es qua Satzung ist, den Einsatz der Nuklearenergie rund um den Globus „zu beschleunigen und auszuweiten“, zählt zehn Jahre nach Tschernobyl mindestens 34 Tote, höchstens aber 48. Nicht mehr jedenfalls als nach einem durchschnittlichen Grubenunglück in Südafrika, Polen oder eben Rußland. So soll es auch verstanden werden. Die von der Sowjetnomenklatura geerbte Lüge im Vorfeld des Gedenktages noch einmal hinauszuposaunen zeugt von einer erheblichen Portion Dreistigkeit und einigem strategischen Geschick.

Der Münchner Strahlenmediziner Edmund Lengfelder – er gehört nicht zu den Alarmisten in dieser Auseinandersetzung – schätzt die Zahl der Tschernobyl- Toten vorsichtig auf inzwischen 25.000. Wie viele von ihnen unmittelbar infolge des Strahlenbombardements zugrunde gingen, ist nicht bekannt. Nach herrschender medizinischer Lehre kann es sich nur um eine, im wörtlichen Sinne, verschwindende Minderheit handeln, weil klassische Spätfolgen einer radioaktiven Verstrahlung wie Leukämie oder andere Krebserkrankungen erst nach einer Latenzzeit von 10 bis 30 Jahren eintreten. Das steht also noch bevor.

Trotzdem sterben die Menschen offensichtlich schon seit Jahren an dem „bedauerlichen Ereignis“ (Klaus Töpfer). Sie sterben – geschwächt durch eine chronische, vermutlich strahleninduzierte Immunschwäche – an Erkrankungen, die andernorts nicht tödlich verlaufen. Und sie sterben an dauerndem Siechtum, an Perspektivlosigkeit, Zukunftsangst und sozialer Ausgrenzung.

Lengfelder, der seit Jahren vor Ort verfolgt, was wirklich passiert, kommt das Verdienst zu, die verlogenen Kleinrechner des Nuklear- komplexes mittels eines einfachen Vergleichs bloßgestellt zu haben. Mit demselben wissenschaftlichen Anspruch, mit dem die IAEO die mittelbaren Opfer des Super- GAUs wegdekliniert, sagt er, könne die Flughafenleitung in Düsseldorf behaupten, bei dem Feuer in ihrem Airport sei niemand verbrannt. Brandopfer seien mithin nicht zu beklagen. Es stimmt ja: Die Menschen erstickten an den giftigen Dämpfen.

Die internationale Atomgemeinde vertraut bei ihrer Desinformationskampagne auf die Tatsache, daß sich strahleninduzierte Krebserkrankungen medizinisch nicht von solchen unterscheiden lassen, die auf andere Ursachen zurückzuführen sind. Die Kausalkette Super-GAU, Verstrahlung, Krankheit, Tod läßt sich in den seltensten Fällen zweifelsfrei belegen. Und dafür, daß statistisch-epidemiologische Verfahren auch in Zukunft nicht zu eindeutigen Ergebnissen führen, sorgte im Fall Tschernobyl die sowjetische Zentralmacht. Zitat aus Dekret Nummer U-2617 C des Moskauer Gesundheitsministeriums vom 27. Juni 1986: „Für geheim erklärt sind die Daten über die Havarie, für geheim erklärt sind die Ergebnisse über die Heilung der Krankheiten, für geheim erklärt sind die Daten über das Ausmaß der radioaktiven Bestrahlung von Personal, das an der Liquidation der Havarie des Atomkraftwerks Tschernobyl teilgenommen hat.“ Es gibt mehr Regierungsanweisungen dieser Art. Bis heute sind Hunderttausende der zwangsverpflichteten Liquidatoren nicht mit Namen und Adresse bekannt. Die Atomwirtschaft und ihre politischen Sachwalter im Westen sind den sowjetischen Apparatschiks zu großem Dank verpflichtet.

Ein Hintergrundpapier für die Wiener Tschernobyl-Konferenz Anfang dieses Monats kommt zu dem Resultat, daß unter den Liquidatoren und den Bewohnern der hoch belasteten Zonen mit vier- bis fünftausend zusätzlichen Krebsfällen zu rechnen sei. Die Beruhigung folgt auf dem Fuße. Die Strahlenopfer, heißt es, werden im statistischen Rauschen der allgemeinen Krebshäufigkeit untergehen. Gott sei Dank ist Krebs auch sonst eine Geißel der Menschheit. Es ist das alte Lied: Statistisch nicht erfaßbare Tote sind eben keine Toten. Man stelle sich einen Moment lang vor, Strahlenkrebs ließe sich zweifelsfrei von anderen Krebserkrankungen unterscheiden und die Opferzahlen würden von heute an, sagen wir, jährlich registriert und weltweit publiziert: 1.000, 2.000, 3.000, 4.000, 5.000 ... Hätte dann die Nutzung der Atomenergie noch eine Chance? Wohl kaum.

Was tun nach dem Ende der „Feierlichkeiten“ zum zehnten Jahrestag? Natürlich muß die Hilfe weitergehen. Natürlich muß die Untersuchung der Folgen weitergehen. Vor allem aber muß die Interpretationshoheit jenen entzogen werden, die an einer ernsthaften Erforschung dieser Jahrhundertkatastrophe keinerlei Interesse haben können. Niemand käme auf die Idee, die gesundheitlichen Folgen des Rauchens von der Tabakindustrie aufklären zu lassen. In Wien ist es aber so: Der Klub der Bagatellisierer aus dem Westen sitzt einträchtig zusammen mit den Verantwortlichen für die Katastrophe aus dem Osten. Und rühmt sich seines wissenschaftlichen Sachverstands, wie 1991, als das „Internationale Tschernobyl- Projekt“ noch jede Spätfolge der Strahlung bestritt, während in Weißrußland schon 30mal mehr Kinder an Schilddrüsenkrebs litten als vor der Katastrophe.

1986, unmittelbar nach dem Super-GAU, gab es zum blockübergreifenden Informations- (und Desinformations-)Austausch über die IAEO praktisch keine Alternative. Andere Kanäle standen nicht zur Verfügung. Nach Auflösung der bipolaren Welt gibt es nicht mehr die geringste Rechtfertigung dafür, jenen das Feld der Folgenabschätzung zu überlassen, deren natürliches Interesse die Vertuschung sein muß. Es sei denn, man hält es mit den Großen Acht, die letzte Woche, nach der als „Gipfeltreffen“ kaschierten Wahlkampfveranstaltung für Boris Jelzin, erklärten, daß die „Kernenergie auch im nächsten Jahrhundert eine wichtige Rolle bei der Deckung des Weltenergiebedarfs spielen“ soll. Gerd Rosenkranz