Abschied von der Vernichtung Israels

Der palästinensische Nationalrat stimmt für die Änderung seiner Charta. Aber wie die Veränderungen aussehen werden, weiß noch niemand. Viele kennen nicht einmal die alte Charta  ■ Aus Gaza Georg Baltissen

„Vom Meer bis zum Fluß, von Nakoura bis Rafah.“ Keine Parole ist Palästinensern so geläufig. Sie ist das Konzentrat der Nationalcharta der PLO von 1968, der Anspruch auf das ganze Palästina: Seit Mittwoch abend ist diese Parole auch offiziell obsolet. Mit überwältigender Mehrheit beschloß der palästinensische Nationalrat auf seiner 20. Sitzungsperiode in Gaza die Änderung der alten Charta. Gestrichen werden alle Artikel, „die mit dem Friedensprozeß nicht zu vereinbaren sind“. Der 45köpfige Rechtsausschuß des Nationalrats wird beauftragt, eine neue Charta zu erarbeiten, die dann nicht mehr vom Nationalrat, sondern vom Zentralrat bestätigt werden muß. Der Zentralrat ist ein rund 100köpfiges Gremium, das die Funktion des Nationalrats zwischen den nur alle zwei bis drei Jahre stattfindenden Sitzungsperioden wahrnimmt. Der Ausarbeitung dieser neuen Charta werden die Unabhängigkeitserklärungen der PLO aus dem Jahre 1988, die von der Aktzeptanz zweier Staaten in Palästina ausgeht, und die Präambel des Osloer Abkommens zugrundegelegt, die von einer friedlichen, umfassenden, dauerhaften und gerechten Lösung spricht. Nach der Abstimmung erklärte PLO-Chef Jassir Arafat: „Ich bin glücklich. Wir haben unsere Verpflichtungen erfüllt.“

Von den 572 anwesenden Mitgliedern des Nationalrats stimmten 504 für die Änderung, 54 dagegen, 14 enthielten sich. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit wurde damit unerwartet deutlich übertroffen. Die Volksfront und die Demokratische Front waren der Abstimmung aus Protest ferngeblieben.

Der Entführer des Mittelmeerkreuzers „Aquille Lauro“, Abul Abbas, hatte vor der Abstimmung noch eine deutliche Mehrheit gegen eine Änderung der Charta gesehen. Und auch Explanungsminister Nabil Schaath, die rechte Hand Arafats im Friedensprozeß, fürchtete, viele Delegierte seien äußerst schwankend.

Viele Delegierte, darunter Hanan Aschrawi und Haider Abdel- Schafi, die Verhandlungsführer auf der Madrider Auftaktkonferenz zum Nahost-Friedensprozeß, kritisierten, daß die PLO Zugeständnisse mache, ohne eine israelische Gegenleistung zu erhalten. Hätte Arafat über die Charta Paragraph für Paragraph abstimmen lassen, so der Bonner PLO-Vertreter Abdallah Frangi, hätte sich keine Mehrheit gefunden.

Symptomatisch für die Nervosität der palästinensischen Führung war der offen ausgetragene Streit zwischen Haider Abdel-Schafi und Jassir Arafat. Abdel-Schafi hatte am Dienstag eine Änderung der Charta zum jetzigen Zeitpunkt als ein unnötiges Nachgeben gegenüber Israel moniert und statt dessen eine politische Einigung über das weitere Vorgehen im Verhandlungsprozeß angemahnt. Arafat hatte daraufhin Abdel- Schafi persönlich attackiert und ihm vorgeworfen, nur nach Publicity zu schielen. Als Abdel-Schafi darauf antworten wollte, entzog ihm der Parlamentspräsident das Wort. In der geschlossenen Sitzung am Mittwoch abend wiederholte Abdel-Schafi seine Kritik und sagte wörtlich: „Ich hätte so etwas von Präsident Arafat nicht erwartet. Das hat mich verletzt.“ Der Parlamentspräsident entschuldigte sich daraufhin bei Abdel-Schafi und von Arafat gab es jede Menge Küsse für den so arg gebeutelten Abgeordneten des Autonomierates.

Doch nur selten ging es so turbulent zu. Die meisten Delegierten verfolgten die Aussprachen mit Distanz. Ein Entwurf für eine neue Charta wurde nicht vorgelegt. Aber auch der Wortlaut der alten Charta dürfte der Mehrheit der Delegierten ein Buch mit sieben Siegeln sein. Stellvertretend für sie sagte ein Delegierter am Mittwoch abend: „Ich habe mich der Revolution angeschlossen, ohne je die Charta gelesen zu haben.“ In der Tat hat die Charta in der Politik der PLO eine untergeordnete Rolle gespielt. Im Rechenschaftsbericht des Exekutivkomitees werden nicht weniger als 38 Beschlüsse des Nationalrats aufgelistet, in denen während der vergangenen 25 Jahre gegen die Charta verstoßen wurde. Die alte Charta, verfaßt nach der arabischen Niederlage im Junikrieg von 1967 und der zweiten Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat, hat der PLO nach außen hin mehr geschadet als genutzt. Als Beleg für den Willen der Palästinenser, Israel zu vernichten, konnte sie propagandistisch ausgeschlachtet werden.

Wann der Entwurf der neuen Charta vorliegt, ist noch ungewiß. Würde die Charta beispielsweise die Bildung eines palästinensischen Staates auf die Grenzen von 1967 festlegen, wäre sie nicht mehr gültig, wenn bei den Verhandlungen andere Grenzziehungen festgeschrieben würden. Gleiches gilt für den palästinensischen Anspruch auf Ost-Jerusalem. Die palästinensische Heimat muß erst noch neu definiert werden.