Heute vor zehn Jahren, am Abend des 26. April 1986, zerbarst das Atomkraftwerk in Tschernobyl. Nur 50 Kilometer östlich leben heute 24.500 Mitarbeiter und ihre Angehörigen – in der jüngsten Stadt der Ukraine. Aus Slawutitsch Barbara Oertel

Atomarbeiter unter sich

Nach einigen Minuten bangen Wartens zwischen Erdgeschoß und sechster Etage ist es geschafft: Mit einem Ruck öffnet sich die Fahrstuhltür. Von den grüngetünchten, rissigen Wänden bröckelt der Putz. In einer Ecke liegen Kippen, die Toilette läßt sich mehrere Meter vor der entsprechenden Tür mit der Nase treffsicher ausmachen. Der schummrige Korridor führt direkt zu einer, von strahlendem Weiß eingerahmten Glastür mit der Aufschrift: Informationszentrum des Atomkraftwerks Tschernobyl, Kiew.

„Sie müssen noch etwas warten, Herr Idelson ist sehr beschäftigt“, sagt eine Dame mit Stöckelschuhen, Kostüm und gestylt bis in den zusammengezwirbelten Haarschopf. Schnell verschwindet sie in einem Büro. Die halboffene Tür gibt den Blick frei auf Ledermöbel, Grünpflanzen, die die Decke streicheln, Computer und Aktenschränke mit getönten Scheiben. Drei Fernseher unterschiedlicher Größe sind über das Arbeitszimmer verteilt. Im Vorzimmer gruppieren sich chromblitzende Gestelle mit Informationstafeln um ein Modell des Atomkraftwerks. Von großen Farbfotografien strahlen Hochzeitspaare, jubelnde Kinder umringen Straßenmusikanten bei einem Folklorefest. Ein Text daneben verrät, wo diese glücklichen Menschen zu Hause sind: Slawutitsch, die Stadt der Atomarbeiter, eine Stadt mit 24.500 Einwohnern, darunter 8.300 Kinder. Das Personal des Kraftwerks verfügt hier über komfortable Wohnmöglichkeiten. Es gibt 6.629 Wohnungen und 441 Einfamilienhäuser.

„Nehmen Sie Platz“, sagt Walerij Idelson, der Direktor des Informationszentrums, und versinkt dabei fast ganz in seinem Ledersessel. „Wir informieren jeden, der es wünscht, über das Atomkraftwerk in Tschernobyl. Dabei verlassen wir uns ganz auf die Daten, die uns die Mitarbeiter dort zur Verfügung stellen“, sagt er und fummelt an einem seiner vier Telefone.

Das Infomaterial besteht im wesentlichen aus einigen Glanzbroschüren über das fröhliche Leben in Slawutitsch. Immerhin haben schon die französische Sängerin Patricia Kaas und die Schwester von Michel Jackson der Stadt ihre musikalische Aufwartung gemacht. Auch die Zeitung Nachrichten aus dem Atomkraftwerk mit der Losung: „Von der Erschütterung durch Tschernobyl zu Erfolg und Aufschwung“, schiebt der Direktor über den Schreibtisch. Wer es noch genauer wissen möchte, bekommt auch gerne eine farbenfrohe Statistik über die erfolgreiche Arbeit der Reaktoren in die Hand gedrückt.

„Wir erzielen bei der Energiegewinnung in der Ukraine mit die höchsten Werte. Und das Werk arbeitet absolut sicher. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund, Tschernobyl zu schließen“, sagt Idelson. Außerdem würden hohe Gewinne erwirtschaftet. Mit einem Teil dieses Geldes werde auch das Informationszentrum mit sieben festangestellten Mitarbeitern unterhalten. Wieviel das Zentrum jeden Monat verschlingt, kann Walerij Idelson nicht sagen. „Ich weiß nur, was ich verdiene“, grinst er. Doch auch diese Summe verschweigt er lieber. Wahrscheinlich könnten allein von seinem Gehalt mindestens ein Dutzend Tschernobyl-Invaliden jeden Monat mit den notwendigen Medikamenten versorgt werden. „Wenn Sie wollen, organisieren wir für Sie eine Tour durch die Zone“, sagt er zum Abschluß. „Allein dürfen Sie da aber nicht herumfahren. Das ist viel zu gefährlich.“

Nach Slawutitsch, jüngste Stadt der Ukraine, kommt man auch ohne die freundliche Begleitung von Walerij Idelson. Den Ortskern schmücken verklinkerte und begiebelte Häuser à la „Schöner Wohnen“, mit Garage, Balkons und kleinen Gärten: der Vilniuser Stadtteil. Einige Straßen weiter ragen realsozialistische, ockerfarbene Plattenbauten in den Himmel: Der Kiewer Stadtteil. In alter brüderlicher Verbundenheit beteiligten sich 1987 außer der Ukraine sieben weitere ehemalige Republiken an dem Aufbau von Slawutitsch. Und so wurde die Musterstadt, nur rund 50 Kilometer östlich von Tschernobyl, in weniger als einem Jahr aus dem sauberem Boden gestampft. Die verstrahlten Erdschichten, so lautet die offizielle Version, seien vorher vollständig abgetragen worden. Eine Gedenkstätte in der Nähe des Rathauses erinnert an die Katastrophe vor zehn Jahren. Zwei quaderfömige Steinblocks, mit Fotos von den Helden der ersten Stunde: Feuerwehrleute, die an der Strahlenfront kämpften und dafür mit dem Leben bezahlten.

Es ist Mittag. Die Straßen sind fast menschenleer. Nur im Supermarkt stöbern einige Ältere und ein paar junge Frauen, eingekeilt zwischen Kinderwagen, gelangweilt in den Regalen. 200 Meter weiter, vor dem Restaurant „Slawutitsch“, hat der stellvertretende Leiter der Abteilung für Kultur und Sport, Wasilij Kolobow, schon Position bezogen. Ungeduldig blickt er auf seine Uhr. Eine Delegation von 45 Sport- und Kulturbeauftragten aus dem Kiewer Gebiet hat sich für heute zur Besichtigung angesagt. „Wir sind da nämlich vorbildlich“, sagt Kolobow und deutet auf Kräne und Gerüste. „Dort bauen wir für unser Stadion eine Tribüne mit 500 Plätzen. Und daneben entsteht ein Tennisplatz.“ Endlich trudeln die angekündigten Gäste ein. Eine halbe Stunde später hat sich auch der letzte der hohen Besucher in den wartenden Bus gezwängt.

Die erste Station der Reise durch das Freizeit- und Sportparadies Slawutitsch ist ein Pferdegestüt etwas außerhalb der Stadt. Erwartungsvoll drängen die Gäste in die muffige Reithalle, in der ehemals Baumaterialien lagerten. Acht Gäule traben ruhig ihre Kreise. Die jungen Reiter lächeln, sobald sie in ihren Sätteln am Publikum vorbeiwippen. „Für die Kleinsten haben wir sogar Ponys“, freut sich der Trainer. Und selbstverständlich seien die Reitstunden umsonst.

Wenig später hält der Bus vor einem Schwimmbad. In der Garderobe bringen einige der Kultur- und Sportfachleute schnell noch einmal die Frisur in Form. Als sich alle am Beckenrand aufgepflanzt haben, gibt der Trainer das Startsignal. Die Mädchen und Jungen kraulen wie besessen durch das Bassin, Wasser spritzt in alle Richtungen. „Drei Schulen und acht Kindergärten haben ihr eigenes Schwimmbecken. Insgesamt gibt es in Slawutitsch 12 Schwimmbäder“, erläutert Kolobow. „Die Gesundheit unserer Kinder ist uns sehr wichtig. Dafür ist sportliche Betätigung ganz entscheidend. Schließlich brauchen wir gesunden und kräftigen Nachwuchs für das Atomkraftwerk.“

Seinen letzten großen Auftritt an diesem Nachmittag hat Wasilij Kolobow in einem der beiden Sportsäle von Slawutitsch. „Bei uns werden 26 Sportarten angeboten, in 17 davon stehen professionelle Trainer zur Verfügung“, leiert er ins Mikro. Die Stadt hat Großes vor, erfahren die Zuhörer. Man denke daran, vielleicht schon im nächsten Jahr Juniorenweltmeisterschaften im Judo auszurichten. „Jetzt erleben Sie unsere Standardtanzgruppe“, schallt es aus dem Lautsprecher. Der rote Vorhang öffnet sich. Knirpse im Smoking und Kindfrauen mit bunten Tüllkleidern wirbeln zu Walzer-, Foxtrott- und Tangotakten wie aufgezogen über die Tanzfläche. Jedesmal, wenn die Musik kurz verstummt, verneigen sich die Tänzer und winken. „Als nächstes folgt ein Vortrag in rhythmischer Sportgymnastik. Die Darbietung trägt den Titel „Glückliche Kindheit“. Schmächtige Mädchenkörper biegen sich durch Reifen sowie unter Bällen und Bändern hindurch, gleiten geschmeidig in einen Spagat und gleich danach in den Handstand. „Das ist wirklich beeindruckend“, flüstert eine der BesucherInnen.

Beeindruckendes konstatiert auch Larisa Chomenko, Professorin am Insitut für Kinderzahnheilkunde der Medizinischen Fakultät in Kiew. Über mehrere Monate hat sie in Slawutitsch 430 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 6 und 15 Jahren untersucht. Das Ergebnis: Karies tritt um ein vielfaches häufiger auf als bei Gleichaltrigen aus anderen Städten. Die Mundschleimhaut ist bei allen untersuchten Kindern krankhaft verändert. Das bedeute, so die Fachfrau, daß die Funktionsweise der Schilddrüse und des Magen-Darm- Traktes erheblich gestört sei. Auch der Mineralhaushalt und der Stoffwechsel seien beeinträchtigt. „Da tickt eine Bombe“, sagt Larisa Chomenko. „Bis die Kinder schwer erkranken, ist es nur eine Frage der Zeit.“

Für die zehnjährige Elena Volskaja aus Slawutitsch war es das nie. Von Geburt an leidet sie an schweren epileptischen Anfällen und ist häufiger im Krankenhaus als in der Schule. Ihre Mutter Ljudmilla war im sechsten Monat schwanger, als der Reaktor in die Luft flog. Sie und ihr Mann Walerij arbeiteten damals als Ingenieure in Tschernobyl und genossen alle Privilegien hochqualifizierter Fachkräfte: Eine geräumige Wohnung im Städtchen Pripjat, günstig gelegen in unmittelbarer Nähe des Atomkraftwerkes. „Aber weisen Sie mal nach, daß der Unfall etwas mit Elenas Krankheit zu tun hat“, sagt Ludmilla und winkt ab.

Walerij schuftet heute immer noch in Tschernobyl. Eine Elektrischka, eine Art Vorortzug, bringt ihn und seine Kollegen täglich ins Werk und wieder zurück. Für Ludmilla hat sich die Jobfrage schon lange erledigt. Seit dem Unglück ist sie zu 80 Prozent arbeitsunfähig. Gerne seien sie damals nicht nach Slawutitsch gezogen. „Wenn ihr nicht wollt, müßt ihr eben kündigen“, habe es geheißen. „Und wo hätten wir hingehen sollen?“ fragt Ludmilla. „Was ist der Mensch schon ohne Arbeit und Wohnung?“

Arbeit hat er, mit dem Geld ist das so eine Sache: Vor über einer Woche hätte Walerij seinen Lohn für den letzten Monat erhalten sollen. Jetzt hat er Nachtschicht und läuft jeden Abend zum Bahnhof, um zu sehen, ob sein Kollege das Geld mitgebracht hat. Auch heute wieder, und wieder vergeblich. „Das war in der letzten Zeit häufiger so“, sagt er, „da gibt's wohl finanzielle Probleme.“ Trotz unregelmäßiger Lohnzahlungen ist die Kreativität der Atomlobby groß genug, um die Belegschaft bei der Stange zu halten. Geschenke zum Internationalen Frauentag, Sponsoring für Kultur- und Sportfeste mehrmals im Jahr, Zuschüsse zu Medikamenten, Spezialbehandlungen und Ferienaufenthalten. „Alles in Slawutitsch hängt von Tschernobyl ab. Das Atomkraftwerk ist unser Leben. Wenn sie die Reaktoren stillegen würden, wäre das das Ende“, sagt Ludmilla. Unfälle könnten schließlich überall passieren. Und jetzt seien die Arbeiter in Tschernobyl vorbereitet. Und dann das Gerede von der radioaktiven Strahlung. „Früher haben wir manchmal gemessen. So zum Spaß. Wie da der Zähler lief... Jetzt denken wir nicht mehr daran“, sagt Ludmilla. „Radioaktivität, es gibt sie nicht.“ Eigentlich nicht. „Wenn ich mir da so unseren Friedhof ansehe, fast alle paar Wochen neue Gräber“, sagt Walerij. Meistens 40- bis 50jährige. Richtig alt wird hier kaum einer.“ Wenigstens in diesem Punkt entsprechen die Broschüren der Wirklichkeit: Slawutitsch, die jüngste Stadt der Ukraine...