1986 war ein gutes Pilzjahr

■ Wie die Tschernobyl-Wolke nach Bremen kam. Marginalien betreffend gesunde H-Milch, Spinat, Schnittlauch

Eigenartig: jeder erinnert sich ans Wetter. Und an die Farben. Wie schön er war, der Frühling 1986, nach dem harten Winter. Wie warm. Der Himmel so blau, die frischen Blätter so grün. Die Erdbeeren so rot. Manche waren schon in einen See im Umland von Bremen gesprungen. Die Gärten waren vorbereitet, die ersten Schnittlauchspitzen guckten raus. Der Tag, als der Reaktor in Tschernobyl hochging, war der Tag zwischen Paradies und Sündenfall. Ein Schwebezustand, der aus der Rückschau umso verdächtiger wirkt, als alle Sinne „Paradies“ meldeten. Der schreckliche Verdacht: daß das Schöne das Gefährliche ist. Das Gift fällt aus dem blauen Himmel. Die Erde, DIE ERDE ist pures Gift. Und immer wieder Erdbeeren, rot, saftig, süß – aber giftig.

Dann die Schuhe, zwischen uns und der giftigen Erde. Die Schuhe nehmen das Gift auf und tragen es nach Hause. Die Schuhe müssen draußen bleiben. Manche bauen für das strahlende Schuhwerk besondere Schuhschränke, verschließbar. Als dann die ersten Berichte über die Reaktorkatastrophe kommen, zögernd noch, ungläubig, weint der Himmel. Seine Tränen sind schieres Gift. Menschen, die durch den Regen laufen, weinen vor Angst. Sie rennen nach Hause, duschen sich gründlich, waschen die nassen Klamotten. In Bremen demonstrieren überraschend spontan müde gewordene Anti-AKW-Kämpfer und stürzen in den Dom, als der Regen kommt. Doch die Domverwaltung vertreibt die Demonstranten: „Hausfriedensbruch“. Die ziehen zum Siemenshochhaus und kippen strahlendes Gemüse ab.

Wir lernen neue Worte. Caesium. Jod. In Polen werden Jodtabletten ausgegeben. Rem. Millirem. Curie. Mikro-Sievert. Milli-Roentgen. Und dann setzt sich Becquerel durch. Ein Bcq, lernen wir, bedeutet einen Atomzerfall in der Sekunde. In Bremen gibt es nur eine einzige Meßstation, an der Uni. Was bedeutet: In einer Pfütze am Bahnhof sind 5004 bcl (bq? bcq?) gemessen worden? Halbwertzeit! Eigentlich ein tröstliches Wort dafür, daß irgendwann einmal alles gut sein wird.

Die ersten Tabellen. Ab sofort studiert man Tabellen mit sehr kleinen oder sehr großen Zahlen, die aber keinen Sinn ergeben. Es werden von Seiten der Kritischen Mediziner, der Verbraucherverbände, der Strahlenschutzkommission, der Ernährungsexpertin der Grünen im Bundestag, des Ökoinstituts usw usf Empfehlungen ausgegeben, und wir lesen sie alle. Eine gute Zeit für Zeitungen, die taz feiert im Tempodrom ihren siebten Geburtstag, die Bremer Lokalredaktion sammelt Teilhaber, um kurz darauf mit der täglichen Bremen-taz zu beginnen.

Kein Spinat. Kein Blattsalat. Kein Schnittlauch. Keine Petersilie. Möhren? Lauch? Spargel nach Schälen, oder lieber gar nicht? Mai ist Spargelzeit. Und Erdbeerzeit. Keine Erdbeeren! Das Teuflischste sind Pilze aus Polen. Tee aus der Türkei ist überaus verpönt, wobei sich heute kaum jemand erinnert, je Tee aus der Türkei getrunken zu haben. Rosinen - verpestet. Milch - „Würden Sie Ihr Kind täglich zehn Mal roentgen lassen?“ (ein kritischer Mediziner). Auf Rehbraten kann man ja verzichten. Aber Käse? Quark? Rindfleisch? Wir lernen indes schnell. Tschernobyl, das ist die Umkehrung aller Werte, das bedeutet, daß das Gute ungenießbar, das Scheußliche begehrenswert wird.

Das Gute: die Biokost, frisch vom verstrahlten Acker; das Selbstgezogene aus dem Garten; das Gesammelte aus dem Wald. 90% Umsatzrückgang in den Bioläden. Keine Steinpilze und Maronen mehr aus dem Hasbruch. Her mit den Scheußlichkeiten: die verachtete Hollandtomate aus dem Treibhaus, Dosenobst und Dosengemüse von Aldi (Til zeichnet eine Karikatur zum Thema „Aldinativ“) und nichtswürdige H-Milch nahe am Verfallsdatum – Hauptsache „vortschernobyl“. Nie wurde so aufs Verfallsdatum gesehen. Und diese Seufzer der Genugtuung, wenn man einen Sack alten Getreides erwischt. Vorjahresmöhren. Trockenmilch aus Interventionsbeständen. Uta Stolle gibt in der taz Ernährungstips: flauschiges, aber altes Toastbrot, Ananas aus Dosen, haltbare Scheibletten – gesund leben mit Toast Hawaii!

Trockenmilch und die Not der Mütter. Kinder bei Regen im Haus halten. Aus den verstrahlten Sandkästen scheuchen. Barfuß auf Gras ist verboten. Schuhe an. Schuhe aus. Kinder vielleicht ganz im Haus halten? Mütter mit Säuglingen und Schwangere packen ihre Siebensachen und fliehen nach Spanien oder auf die Kanaren. In München stellen die Grünen den Antrag, die Stadt möge Müttern mit Kindern die Flucht bezahlen. Bei Pro Familia und den humangenetischen Beratungsstellen laufen die Telefone heiß. Schwangere wollen wissen, ob sie abtreiben sollen. Bei Pro Familie steigt signifikant die Abbruchsbegründung „befürchtete Schäden beim Kind“ an. Ein knappes Jahr darauf kommt G.'s Kind mit Herzfehler zur Welt und lebt nur wenige Tage. Die ersten Hochrechnungen: 30.000 Krebstote jährlich nach Tschernobyl.

Manche verschließen Augen und Ohren und sagen: Gesunde Kinder, gesunde Menschen kommen mit dem bißchen Caesium klar. Nur wer Angst hat und sich versteckt, wird krank. Radio Bremen bringt ein Gespräch mit Horst Eberhard Richter: Wie mit der Angst vor den Strahlen umgehen? Urlauber kommen aus Frankreich zurück, wo man der Meinung ist: Die Deutschen spinnen. Der französische Landwirtschaftsminister: „Frankreich ist von den radioaktiven Rückwirkungen total ausgespart geblieben.“ Die DKP in Bremen gerät in Erklärungsnotstand: „AKWs für der Erhalt des Weltfriedens sind dringend erforderlich.“ Die DKP Oldenburg lädt ein ZK-Mitglied der KPDSU ein, der erzählt, daß um Tschnobyl schon wieder glückliche Kühe weiden. Der Saal kocht.

Die Katastrophe weitet sich aus: Nutella geht auch nicht mehr. Trotzdem gibt es auch Leute, die vergnügt sind: die Hersteller von Geigerzählern etwa (299.- ohne Eichung), die in Lieferschwierigkeiten geraten; oder Alte, die ein bißchen Verstrahlung nicht stört, weil sie keine Kinder mehr bekommen und den Krebs hoffentlich auch nicht mehr erleben. Sie jubeln: Nie gab es so viele Waldpilze wie heute! Keine Konkurrenz. Und 1986 war ein außerordentlich gutes Pilzjahr.

Oldenburger Schüler bringen zum Physikunterricht Blätter von Laubbäumen mit. Der Lehrer erklärt Grundsätzliches zur Radioaktivität. Der Geigerzähler regiert leider überhaupt nicht auf das Tschernobyllaub. In Oldenburg gibt es schulfrei, wenn es regnet. In Bremen gilt die Schulpflicht auch bei strahlendem Regen. Für einen kurzen Moment richten sich alle besorgten Blicke im ganzen Land auf ein Eisenbahnwaggon in der Nähe von Rheine, voll mit Molkepulver, das aus Nachtschernobylmilch hergestellt wurde. Wer kann schon wissen, wo all die strahlenden Lebensmittel hingelangen. Und wer will das wissen? Der erste Leserbrief in der taz zu Tschernobyl: Es ist zum Heulen: Die alten Männer verseuchen die Welt mit ihrer Nekrophilie. Ich sehe das sprießende Grün und kann nur an die Vernichtung denken. Die Morgenpost kommt mit der Schlagzeile „Abschalten!“ heraus.

Burkhard Straßmann