Hilfe, um das Gesicht zu wahren

■ Neuer Kieferspezialist in St.-Jürgen-Klinik verarztet „Wolfsrachen“ und „Hasenscharten“

Bücherstapel auf den Tischen und Schränken, dazwischen Abbildungen von Gesichtsknochen. Im Wartezimmer mehrere PatientInnen, dieweil der Doktor „nur mal schnell“ bei einem anderen Patienten die Fäden zieht. Viel Zeit, um sein neues Büro einzurichten, hatte der Doktor offensichtlich nicht: Professor Dr. Dr. Andreas Bremerich ist der neue Chefarzt der Kieferchirurgie im St. Jürgen-Krankenhaus. Der 41jährige Bremerich hilft vielen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes, ihr Gesicht zu wahren: Sein Spezialgebiet ist die rekonstruktive Chirurgie im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich.

Wem nach einem schweren Unfall oder durch einen Tumor Teile des Unter- oder Oberkiefers fehlen, kann seit Beginn dieses Jahres in der St.-Jürgen-Straße besonders gut geholfen werden. Hierfür werden zum Beispiel Knochen samt den anschließenden Blutgefäßen aus dem Wadenbein oder dem Schulterblatt des Patienten entnommen. „Wenn die komplizierte Operation gelungen ist, können nach einem halben Jahr in diesen neuen Kiefer Titan-Implantate als Basis für neue Zähne gesetzt werden.“, erläutert Bremerich. Aus Hautteilen des Unterarmes oder der Flanke kann ein neuer Gaumen rekonstruiert werden. Dünndarmgewebe wird im hinteren Mundbereich eingesetzt, um die natürliche Feuchtigkeit zu erhalten. Weichkunststoff ersetzt Nasen, Ohren und Augen, wo vorher Löcher waren.

Die Verpflanzung von Knochenteilen zur Rekonstruktion des Kiefers ist erst seit den achtziger Jahren möglich. Die dazu nötige Mikrochirurgie der Gesichtsnerven und Blutgefäße begann in Bremen in diesem Umfang erst mit Amtsantritt des Chefarztes. Die Erfolgsquote liegt in Bochum bei 90 Prozent. Dort war Bremerich fünf Jahre als leitender Oberarzt tätig. Komplikationen seien seltener als in der inneren Organchirurgie, wo das Abstoßen der implantierten Organe das Hauptrisiko darstelle. Leichte Gehprobleme nach der Entnahme von Knochenteilen aus dem Becken seien zwar nicht auszuschließen, aber: „Man muß abwägen, was wichtiger ist – leichte anfängliche Gehprobleme oder ein dauerhaft fehlender Kiefer.“

Der Schwerpunkt in der operativen Korrektur von sogenannten Wolfsrachen und Hasenscharten, den Bremerichs Amtsvorgänger gesetzt hat, wird auch weiterhin erhalten bleiben. Da die PatientInnen mit Problemen in diesem Bereich zumeist Kinder sind, stehen der Kieferchirurgie Betten in der Kinderklinik zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es 29 Betten direkt in der Station für Erwachsene, die die Tumor- und rekonstruktive Chirurgie in Anspruch nehmen müssen. Aufgrund der allgemeinen Gesundheitspolitik wird die Bettenzahl jedoch überall zugunsten der Ambulanz abgebaut. Dem wird auch in der Kieferchirurgie Rechnung getragen: Bis Ende des Jahres sollen trotz Geldmangel des ZKH zwei weitere Ambulanzeinheiten mit OP und den entsprechenden technischen Möglichkeiten eingerichtet werden.

Ein „Hobby“ des Doktors der Medizin und der Zahnmedizin kommt vielen PatientInnen zugute: die Schmerztherapie. „Gerade Schmerzen im Gesichtsbereich sind schwer zu diagnostizieren. Es gibt keine klaren Behandlungsrichtlinien für Schmerz oder Gefühllosigkeit, aber sie sind ungemein störend.“ Schmerz-, Tumor- und SpaltpatientInnen und solchen mit Mißbildungen in den Gesichtsknochen bietet Dr. Bremerich besondere Sprechstunden zur intensiveren Betreuung an.

Auch niedergelassene ÄrztInnen und ZahnärztInnen sollen von der Kompetenz des zweitjüngsten Chefarztes der Kieferchirurgie in Deutschland profitieren: In regelmäßigen Symposien können sie sich über die Möglichkeiten der rekonstruktiven Gesichts- und Kieferchirurgie fortbilden. Denn meistens sind sie es, die PatientInnen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus weiterbetreuen. „Wenn ich mir die Anmeldungen zu der Veranstaltung im Mai anschaue, ist die Akzeptanz in diesem Bereich groß“, meint Bremerich und fügt schmunzelnd hinzu: „Dabei wird natürlich auch die Neugier der Niedergelassenen auf den Neuen eine Rolle spielen.“ Birgit Köhler