Erwachsenwerden ist schön

Im 90-Minuten-Takt werden über 10.000 „Jugendweihlinge“ zum Erwachsenen geschlagen. Ratschläge und „Anregungen für das weitere Leben“ gibt es gratis.  ■ Von Christoph Seils

Noch hat das frohe Fest gar nicht begonnen, aber in den hinteren Reihen ist bereits Unruhe. „Wenn du Theater machst, bist du sofort draußen!“ faucht eine Mutter ihren Sohn an. „Daß du mir ja nicht die Jugendweihe von Diana verdirbst!“ Die große Schwester sitzt in einer der ersten beiden Reihen und rutscht wie die anderen 36 Leidensgenossen nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Ein Kandidat fürs Erwachsenwerden hat sich verspätet.

Dann endlich wird der Saal abgedunkelt. Die Augen können sich von der grellen Deckenbemalung lösen, dafür dröhnt jetzt die Musik. Vor allem Omi und Opi greifen sich vor Schreck an die Ohren. Weltmusik hat die Interessenvereinigung Jugendweihe zum Ehrentag gebucht, festliche Lieder aus vier Kontinenten.

Zwischen März und Mai dieses Jahres veranstaltet die Interessenvereinigung Jugendweihe in Ostberlin 174 solche Feiern, um über 8.000 Jungen und Mädchen die Möglichkeit zu bieten, „den Tag des symbolischen Endes der Kindheit froh zu begehen und Anregungen für das weitere Leben mitzunehmen“. So steht es in den „programmatischen Grundsätzen“ des Vereins. Dreimal läuft an diesem Tag im Freizeitforum Marzahn das Programm. Im 90-Minuten-Takt werden die 13-, 14- oder 15jährigen zu Erwachsenen geschlagen.

„Ein schwieriges Alter“, weiß auch Heinrich Niemann, Gesundheitsstadtrat von Hellersdorf, der an diesem Nachmittag die Festrede hält. „Eure Zukunft ist offen“, erklärt er mit feierlichem Gesicht. „Wie sie sein wird, hängt von euch ab.“ Der PDS-Politiker reiht ein paar allgemeine Lebensweisheiten aneinander, zitiert diesen oder jenen Gelehrten, mahnt, sich mit den Eltern zu vertragen, und hebt schließlich den Zeigefinger: „Nutzt eure Zeit, und laßt euch nicht zu geistiger Anspruchslosigkeit verführen!“

Das Ritual ist dann denkbar einfach. Im Gänsemarsch schreiten jeweils fünf bis sieben Jugendliche auf die Bühne. Die Namen werden aufgerufen, Urkunden überreicht. Dazu gibt's jeweils eine Rose sowie ein buntes Buch. Die Hauptdarsteller stehen in ihren neuen Kleidern steif auf der Bühne, wissen nicht, wohin mit den Händen. Sie starren ziellos ins Dunkle oder suchen Blickkontakt mit den Verwandten. Im Hintergrund plärrt vom Band Klaviermusik von Richard Clayderman. Kein feierlicher Eid auf den Sozialismus mehr, auch kein triefendes Bekenntnis zu Gott und der Welt, schon ist man erwachsen. „Schön war's“, heißt es anschließend zum Papa – oder auch nur „ganz nett“. Die ersten Geschenke werden überreicht, und dann geht's ab zum großen Fressen. Wer will, kann zuvor schnell noch für 60 Mark das Video zur Jugendweihe bestellen.

Etwas flotter geht es zur selben Zeit im Kammermusiksaal der Philharmonie zu. „Jugendfeier“ heißt es hier. Der Humanistische Verband, der sich bewußt von den nostalgischen Jugendweihen der Konkurrenz abgrenzt, kommt nur auf 2.300 Kandidaten, die zur Zeit auf 14 Veranstaltungen abgefertigt werden. Statt mit klugen Ratschläger kommen die Humanisten pädagogisch daher. In einer Revue mit Musik, Tanz und kleinen Szenen werden für die 160 Jugendlichen und ihre Familien die Probleme des Lebens durchgehechelt. Obdachlosigkeit, Ausbeutung in der Dritten Welt, fehlende Ausbildungsplätze, Politikverdrossenheit: kein Thema darf fehlen.

„Die Welt ist ungerecht“, heißt es bei Barbara Kellerbauer und Ines Paulke, zwei verglühten Schlagersternchen des realen Sozialismus, die durchs Programm führen. „Mit den heutigen Träumen wird die Welt von morgen entstehen, wenn du es willst.“ Gelangweilt blättern die Noch-Kinder in ihrem Jugendfeier-Buch, warten, bis ihr Name aufgerufen wird, damit sie der Familie einmal zuwinken dürfen. Endlich ist es vorbei, vor der Tür wartet die Großmutter mit Blumen. „Herzlichen Glückwunsch zur Jugendweihe!“ „Schmatz!“ So schön ist Erwachsenwerden.