Der pädagogische Zeigefinger

■ Der Himmel des Reisens will, wie andere Paradiese, verdient sein. Und wie immer im Leben gibt es zwei Wege. Was uns Reiseführer darüber lehren, läßt aufmerken

Es stimmt ja gar nicht, daß wir heute in der unübersichtlichsten aller Welten leben und daß wir, allein gelassen, unter dieser leiden. Wenden wir uns dem florierenden Ratgebermarkt zu, genauer: dem Reiseführer.

Verläßlich wie ein Schweizer Taschenmesser begleitet er uns in die erstrebenswerteste aller Erlebniswelten, in die Ferien. Verständig und einfühlsam für alle modernen Nöte werden wir „an der Hand genommen“. Allerdings – das gern gebrauchte Ausrufezeichen gemahnt uns daran –, aufmerken muß man schon, will man „einen totalen Ein- und Überblick“ (Vis à Vis) gewinnen.

Die Pfade zur Utopie sind aufs genaueste und – das ist das Geniale daran – dennoch aufs einfachste ausgewiesen und beschildert. Farbleitsysteme lotsen auch Andersbegabte durch die Texte. Mit Hilfe vielfältiger Piktogramme, der knappsten aller Bildformeln, wird phantasievoll zum Ausdruck gebracht, was „wirklich“, das heißt wirklich wichtig ist am Reiseziel. Als untrügliches Gütesiegel fungiert nicht bloß der Stern. In der Epoche der Glaubwürdigkeit ist es auch das Herz. „Das Herz steht bei all den Sehenswürdigkeiten, die besonders schön oder besonders interessant sind und daher nicht ausgelassen werden sollten“ (DuMont visuell). Kleine Fußabdrücke entlang einer Linie verhindern, daß wir in der verkehrten Richtung laufen (Merian XL). Man scheut weder Zeit noch Mittel, um an die „Hauptsehenswürdigkeiten (Vis à Vis), die Top ten (Merian XL) heranzuführen. In dankenswerter Großzügigkeit geben die Verlage noch die „ganz speziellen Empfehlungen unserer Autoren“ (Marco Polo) preis. Einweihung in die letzten Geheimnisse des Reisens.

Ohne Zweifel gibt es ihn also, den guten Menschen, der bereit ist, uns durch die Unwägbarkeiten der Ferne zu begleiten. Wie viele Gutmenschen weisen uns natürlich auch Reiseführerautoren darauf hin, daß dieser Himmel des Reisens wie alle anderen Paradiese verdient sein will. Und wie immer im Leben gibt es zwei Wege, nämlich einen schmalen und einen breiten Weg. Vor den Sünden allzu leichter Genüsse werden wir denn auch eindringlich gewarnt: „Wir wissen, daß rücksichtsloses Konsumieren von Landschaften und Kulturen Schäden anrichtet und gerade das, was viele Weltenbummler suchen, zerstört“ (Reise Know- How Verlagsprospekt). In der protestantischen Moderne ist der schmale Weg eindeutig der bessere. Er setzt auf die Einsicht in menschliche Fehlbarkeiten und liefert praktische Argumentationshilfe gleich mit: „Zehn gute Gründe für eine Reise in die Bretagne“ (DuMont visuell).

Welche Gebote und Verbote zu beachten sind, bleibt keineswegs dem Zufall überlassen. Reiseführer geben „touristische Lebenshilfe“ (Merian Verlagsprospkekt): „Bloß nicht! Worauf man achten und was Sie vermeiden sollten“ (Marco Polo). Vieles sollten wir: „Nicht versäumen!“ (DuMont Richtig Reisen und Vis à Vis). Den besonders ausdrucksstark erhobenen Zeigefinger für „besonders hervorzuhebende Objekte“ (Merian Besser Reisen) hat man leider, das bedauern wir als LeserInnen und aus Gründen wünschenswerter Eindeutigkeit zutiefst, durch ein nichtssagend grau hinterlegtes Textfeld (Merian live!) ersetzt.

Das alles macht es leicht, das einzig richtige anders zu tun und „Die Provence [zu] planen“ (Kapitelüberschrift Merian XL). Zumal ein „erlebnisorientierter Stil“ (Merian live!, Verlagswerbung) erarbeitet sein will. So sollten wir uns im Gehen und Schauen, in der Kunst der neuen Langsamkeit (ihr Zeichen: die Schnecke von Slow food, Droemer Knaur) üben, in der Kunst auch, diese Langsamkeit „bestens gerüstet“ (DuMont Reiseführerprospekt) zu organisieren. Ob und wie lange man dann per Kanu, zu Fuß, mit dem Fahrrad, auf dem Pferd, mit dem Auto wohin unterwegs ist, dies will wohlüberlegt sein. „Lassen Sie sich alles Sehenswerte wie durch eine Lupe zeigen. Ganz nah. Schritt für Schritt. Bild für Bild“ (Vis à Vis). Will man den Fallen des 08/15-Tourismus und somit auch den Landsleuten entgehen, so ist die Begegnung mit den Einheimischen unerläßlich. „Mit Land und Leuten Bekanntschaften zu schließen“ (Merian XL), so wissen wir längst, ist das höchste aller Ziele.

Ein laufendes Männchen zeigt an, „wo Sie bestimmt viele Einheimische treffen“ (Marco Polo). Die Silhouette mehrerer Köpfe signalisiert: „Bevölkerung“ (Vis à Vis). Und stößt man in speziell gekennzeichneten Lokalen auf diese, so ist Kleiderordnung angesagt, damit die Begegnung nicht zum Kulturschock führt. Das entsprechende Piktogramm mit Krawatte und Jackett (Vis à Vis) läßt allerdings die Damenwelt etwas ratlos zurück.

Mögen der eine oder die andere unken, wie sie wollen – wir bestehen darauf: Nur mit Hilfe des einen exklusiven Reiseführers kann man das Tor ins andere, bessere, richtige Reisen durchschreiten. Die vielen aber, die den breiten Weg gewählt haben, die um das Goldene Kalb „ihre Lust treiben“ (2. Mose 32,6), diese werden in der Hölle des Massentourismus braten: „Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführet...“ (Matth. 7, 13-14).

Elisabeth Fendl und Klara Löffler