„Daß irgendwas Großes passiert“

Sie wollen lernen – aber nicht in der Schule. Sie haben Ziele – und wollen sie erreichen. Wenn sie tanzen, fotografieren, reden, dann ahnen sie, wie das gehen könnte. Alicia und Selena, 16 und 17 Jahre alt, Freundinnen und Selfmade-Mädchen  ■ Von Miriam Lang

„Das ist unser Prachtstück“, sagt Selena. Und wirklich haben die Frauen aus der fensterlosen, gekachelten Naßzelle ein Kunstwerk gemacht. Über der Badewanne ersetzen Flußkiesel und Muscheln die Kacheln an der Wand, ein Fries in leuchtendem Blau und Gold läuft rundherum, bunte Lichtgirlanden sorgen für die notwendige Überdosis Kitsch.

In einer kleinen Mansardenwohnung in München-Haidhausen. Alicia und Selena sind Freundinnen, 16 und 17 Jahre alt. Hier wohnt Selena mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester. Gerade hat sie alles gezeigt: Drei kleine Zimmer, eine Wohnküche, alles sehr einfach, praktisch und in die Jahre gekommen. Die Mutter ernährt die Familie mit einem Halbtagsjob, 1.700 Mark im Monat. Kein Wohnzimmer, kein Fernseher. Das Bad.

Zwischen den Teetassen auf dem Küchentisch türmen sich Ordner mit selbstentwickelten Fotos, die meisten schwarzweiß. „Hey, da ist ja der Bene mit langen Haaren!“ freut sich Alicia. „Und das ist Borka, der da auf dem Baum sitzt.“ Borka, Selenas derzeitiger Freund, blickt uns mit extravagant geschminktem Gesicht aus einer Astgabel entgegen. Der ganze Freundeskreis der Mädchen ist in schrägen Posen und schriller Kleidung abgelichtet, ein Spiel mit der Identität. Fotografie ist eine der Leidenschaften, die Selena und Alicia teilen.

Langeweile kennen sie nicht, außer vielleicht in der Schule: „Es gibt so viel, was ich unbedingt lernen will, aber das kann ich in der Schule einfach nicht. Dafür muß ich mich mit so blödem Zeug wie Mathe rumschlagen. Das ist doch echt endbescheuert!“ sagt Alicia.

Das meiste von dem, was sie lernen wollen, lernen sie in der Freizeit: Selena trainiert dreimal wöchentlich den brasilianischen Kampftanz Capoeira, geht regelmäßig reiten, malt und zeichnet und spielt so gut Flöte, daß sie demnächst Unterricht geben möchte. Alicia lernt afrikanische Tänze, spielt Theater, trommelt und hat für die nächsten Monate gleich fünf Kurse an der Volkshochschule belegt, „um neue Sachen auszuprobieren“. Seitdem den beiden kürzlich angeboten wurde, bei einem Musical mitzumachen, nehmen sie einmal wöchentlich zusätzlichen Unterricht in Tanz, Theater und Percussion.

Finanzieren müssen sie sich ihre Aktivitäten fast allein. Auch Alicia lebt mit ihrem Bruder bei ihrer Mutter, die freiberuflich arbeitet und sich in schlechten Zeiten mit Tippen durchschlägt. Als Zwölfjährige hat Alicia das erste Mal Zeitungen ausgetragen. Ihr bisheriger Spitzenverdienst waren 16 Mark die Stunde bei einem Steuerberater. Selena hat zuletzt bei Müller-Brot Brezen verkauft, aber „da war die Chefin so Scheiße, daß ich wieder gegangen bin, und jetzt muß ich was Neues suchen“.

Taschengeld bekommt sie nicht. Der Vater hat sich schon bei Selenas Geburt verabschiedet und lebt heute verheiratet und mit fünf weiteren Kindern in der Nähe von Starnberg. Selena hat ihn noch nie gesehen und will das auch gar nicht: „Ich glaub', der ist ein ziemliches Arschloch, der will mich nämlich auch nicht sehen. Außerdem hat er damals gesagt, er will keine Kinder, und wollte meine Mutter überreden, daß sie abtreibt. Und jetzt hat er fünf.“

Das Geld ist also knapp. Für Klamotten beispielsweise bleibt den beiden kaum etwas. Das meiste ist selbst genäht, von der Mutter, der Oma oder ihnen selbst. Weite, bequeme Sachen, Hosen, die man auch zum Sport anziehen kann, alte Schnürstiefel, abgetragen und eingelatscht. Mainstream, Moden und Trends finden sie zum Glück sowieso „endblöd“.

Ihre relative Armut mitten in der eleganten bayerischen Metropole empfinden die beiden Mädchen nicht als Handikap. Es ist, als wüchsen Eigeninitiative und Selbstbewußtsein proportional zum Schwierigkeitsgrad der selbstgestellten Aufgaben. Sie verspüren Neugierde und Ehrgeiz, wo andere, die es vergleichsweise leichter haben, von Ängsten gelähmt sind. „Ich bin eigentlich immer gespannt, was als Nächstes kommt“, beschreibt Alicia ihr Lebensgefühl. Bei Selena ist das nicht viel anders: „Ich hab' das Gefühl, daß ich wie in so einem Startloch sitze und darauf warte, daß irgendwas Großes passiert, daß ich endlich ins Ausland kann oder so. Ich glaube, das Gefühl geht erst weg, wenn ich mal fertige Fotografin bin und anfangen kann zu machen, was ich will.“ Fotografin will sie werden – aber Tänzerin wäre auch nicht schlecht.

Mit Selenas Spiegelreflexkamera und einem Kajalstift im Gepäck, den Selena heimlich der Mutter entwendet hat, ziehen sie zum Stachus. Unter den Blicken von TouristInnen und Einheimischen, die den späten Sonntagnachmittag genießen, bemalen Alicia und Selena sich gegenseitig die Gesichter und porträtieren sich dann: im Sitzen, im Liegen mit Blick durch die Füße oder vor einer Wand, auf die sie im letzten Sonnenlicht lange Schatten werfen. Die kleine Performance erregt Aufsehen, aber erst als eine Gruppe junger Burschen anzügliche Bemerkungen und Gesten macht, wird Alicia ärgerlich: „Komm, laß uns ein Stück weitergehen...! Ich kann das echt nicht ausstehen, wenn die sich so aufführen!“ Selena wundert sich: „Echt? Mich stört so was überhaupt nicht.“

Zwischendurch reden Alicia und Selena immer wieder über Jungs – darin unterscheiden sie sich nicht von den meisten Mädchen ihres Alters. Sie sind kritisch, haben Ansprüche. Weil sie selbst „total viel machen und Ziele haben“, erwarten sie das auch vom anderen Geschlecht. Wenn einer sich hinter Witzen und hohlen Sprüchen versteckt, sobald ein wirklich spannendes Thema aufkommt, verliert Alicia schon das Interesse: „Für mich ist es total wichtig, mit jemandem gut diskutieren zu können“, sagt sie. Außerdem sollte er sie ab und zu kritisieren – und tanzen sollte er auch gern.

Flirts, heimliche Lieben und sexuelle Erfahrungen – es gibt eigentlich nichts, worüber die beiden nicht sprechen oder wozu sie nicht stehen könnten. Und nicht aus Schamgefühl, sondern aus Fairneß gegenüber den beteiligten Jungs, schweigen sie über Details.

Kurz vor sechs. Plötzlich haben die beiden es eilig. Sie rasen in einen Supermarkt und kaufen noch schnell ein Kilo Kartoffeln für den Auflauf heute abend. Alicia geht dann zu ihrer Mädchentheatergruppe, wo sie Dario Fos „Tod eines Anarchisten“ zusammenfassen muß, weil die Gruppe gerade ein neues Stück sucht. Selena geht zum Capoeira-Training.

Eigentlich dürfte sie gar keinen Sport machen – erst vor wenigen Stunden hat sie sich die Gipsschiene von der gebrochenen Nase gerissen: ein Capoeira-Unfall. Doch der Ehrgeiz geht so weit, daß trotzdem trainiert wird, auch wenn's weh tut. Seit Wochen liefert sie sich zu diesem Thema heftigste Gefechte mit ihrer Mutter. „Das ist so'n Tick von mir, Sport ist mir eben total wichtig. Wenn ich nicht ins Training gehe, habe ich einfach das Gefühl, was zu verpassen“, sagt sie.

Kurz darauf bewegt sich Selena wie ein Gummiball durch eine Sporthalle: Ihr schlanker Körper biegt sich, schnellt herum, fällt mühelos in den Spagat. Es wird offensichtlich, daß sie die Bewegung nicht nur genießt, sondern braucht. „Das sind für mich die größten Glücksmomente, wenn ein Training oder eine Capoeira-Show gut war und ich danach die Erschöpfung spüre“, sagt sie hinterher.

Selena ist eine der Jüngsten in der Gruppe. Sie kompensiert das mit einer Energie, die geradezu sichtbar aus ihr herausströmt: Selbst in den Pausen, wenn alle anderen verschnaufen, probiert sie neue akrobatische Figuren oder dehnt irgendein Körperteil. Spielerisch geht sie an ihre Grenzen – was manchmal gefährlich wird. Im Kampf geht sie oft so nah an den Gegner heran, daß den ZuschauerInnen in der Halle der Atem stockt – bis der Trainer sie beiseite nimmt und Abwehr üben läßt.

Abends um neun trifft Selena Alicia in Schwabing wieder, wo bei zwei Freunden der Auflauf gekocht werden soll. Alicia kommt an die Tür. Anstelle einer Begrüßung schreit sie los: „Ich hasse diese Scheißschule! Ich bin doch kein unmündiger Gegenstand, über den die einfach bestimmen können! Ich hab' keine Lust mehr, mich so behandeln zu lassen! Ich hab' die Schnauze voll, ich will da nicht mehr hin!“

Erst nachdem der Wutanfall abgeebbt ist, erfährt die Freundin, was passiert ist: Wegen ihrer Grippe hat Alicia in den letzten Tagen eine Französisch-Schulaufgabe verpaßt. Anstatt mit ihr persönlich einen Nachholtermin zu vereinbaren, hat die Lehrerin eine förmliche Mitteilung an ihre Mutter geschickt, auf der ein Termin angegeben ist mit den Worten „...hat sich einzufinden am...“. „Das ist andauernd so in dieser Schule, da wird man schon ins Absentenheft eingetragen, wenn man zwei Minuten zu spät kommt!“

Eher eine Lappalie, findet Selena und rät ihrer Freundin, sich nicht so aufzuregen. Doch Alicia geht es um mehr, das Schulsystem mit seinen Reglements und seinen Noten kommt ihrer impulsiven und aufbrausenden Art nicht gerade entgegen. Wegen Mathe und Physik ist sie im letzten Jahr durchgefallen und hat die Schule gewechselt. Jetzt geht sie auf ein Mädchengymnasium mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt – und langweilt sich.

Die neue Klasse ist doof, das Ambiente behütet, nur in Mathe hat sie jetzt sehr viel mehr Selbstbewußtsein. „Dafür ist die Mädchenschule schon gut, ich trau' mich jetzt auch mal zu sagen, daß ich was kann. Aber sonst...“ Nur der Beschluß, nach der Zehnten auf die Fachoberschule zu gehen, kann ihr den Gedanken erträglich machen, daß sie da morgen wieder hinmuß.

Später – alle haben irgendwelches Gemüse geschnippelt, und Selena war begeistert, daß sie heute so ein gesundes Essen kriegt anstelle des üblichen Käsebrots – sitzen die FreundInnen gemütlich um den Eßtisch, der Auflauf brutzelt im Ofen. Selena baut den schon am Nachmittag angekündigten Joint.

Die Mädchen und ihre Freunde weigern sich, so zu tun, als sei niemand da, der sie beobachtet. Alicia läßt nicht locker: „Wieso eigentlich ausgerechnet wir?“ Sie sind zu viert, sie sind extrem neugierig, und sie sind laut, wenn es darauf ankommt: „Nun erzählt doch mal von euch, was macht denn eine Journalistin so den ganzen Tag?“