Auf zur größten Wahl der Welt!

Heute beginnt Indiens Parlamentswahl – ein hocheffizientes, durchbürokratisiertes und gegen alle Tricks geschütztes Demokratiemonster  ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

Alle fünf Jahre geht der Welt größte Demokratie wählen – worauf deren Bewohner immer noch mit Recht stolz sind. Diesmal sind es beinahe 600 Millionen Menschen, die in Indien wahlberechtigt sind, und selbst wenn nur zwei Drittel davon stimmen gehen, werden es mehr sein als alle Stimmberechtigten der Industrieländer zusammen. 820.000 Wahlurnen werden über das ganze Land verteilt aufgestellt, in Slums und Villenquartieren, in Schulgebäuden und Hütten. Nur 8.000 davon werden von der Wahlkommission als „sensibel“ eingestuft – Euphemismus für die Gefahr, daß sie von angeheuerten Muskelmännern gestohlen werden könnten oder daß Wählern die Stimmabgabe gewaltsam verweigert wird. Zur Abschreckung sind 1,5 Millionen Polizisten mobilisiert sowie nahezu 100.000 Mitglieder paramilitärischer Verbände.

Die Wahlkommission hat während des Wahlkampfs praktisch diktatoriale Befugnisse; sie kann sogar den Premierminister aus dem Rennen nehmen, wenn sie findet, daß er die Wahlkampfregeln verletzt. Vor zwei Wochen stoppte sie eine Regierungslizenz für Baumwollexporte, weil sie dahinter eine Begünstigung der Bauern vermutete. Minister Sukh Ram erhielt eine Verwarnung, weil er seinen Wahlhelfern per Fax Weisungen übermittelte. Noch ein solcher Ausrutscher, und Sukh Ram braucht keine Wahlhelfer mehr.

„Jeden Abend sitzen wir nach einem anstrengenden Wahlkampftag zusammen und rechnen aus, wieviel wir ausgegeben haben“, sagt Aruna Gaekwad, unabhängige Kandidatin in Vadodara. „Wenn wir sehen, daß wir die festgesetzte Ausgabengrenze überschritten haben, müssen wir am nächsten Tag einen Jeep aus dem Verkehr nehmen oder einige Wahltermine auslassen.“ So soll sichergestellt werden, daß Frau Gaekwad, steinreiche Gattin des ehemaligen Maharadscha von Baroda, nicht mehr ausgibt als ihr armer Konkurrent aus der Kastenlosen-Partei BSP.

Kein eindeutiger Wahlsieger zu erwarten

Nach vierzig Jahren Katz-und- Maus-Spiel mit einem habgierigen Staat sind die Inder zwar clever genug, um auch hier Auswege zu finden; aber jedem Kandidaten sitzt die Angst vor einem Spion der Gegenpartei im Nacken.

Im Handbuch der Wahlleiter über die korrekte Durchführung der Wahl ist jedes Detail aufgeführt, von der Dicke der Vorhänge der Wahlkabinen bis zur Verwahrung von Stempelkissen und Tinte. Was ist zu tun, wenn eine verschleierte Frau erscheint und ein Vergleich mit dem Bild auf der Identitätskarte nicht möglich ist? Antwort: Ihr Daumenabdruck oder ihre Unterschrift müssen verglichen werden. Was ist, wenn ein Wähler keinen rechten Zeigefinger mehr hat, auf dem eigentlich mit offiziell waschfester Tinte ein Tupfer angebracht wird, damit der gleiche Wähler nicht nochmals hinten ansteht? Antwort: Man nehme den nächsten Finger; falls es gar keine Finger gibt, den Ellbogen; fehlt der Arm, nehme man die linke Hand und beginne von vorn.

Inzwischen werden die Prognosen der Meinungsumfragen immer eindeutiger. Keine gibt einer der großen Parteien allein die nötige Mehrheit von 272 Sitzen. Die Kongreßpartei dürfte zwar mit 30 bis 33 Prozent immer noch am meisten Stimmen gewinnen, aber ihrer inneren Zersplitterung in mehreren Staaten zum Opfer fallen, wo abtrünnige oder ausgeschlossene Kongreßpolitiker eigene Parteien gegründet haben. In Salem in Tamil Nadu kandidiert so der regierende Kongreß-I gegen einen Kongreß-M und einen Kongreß-T – beim indischen Menrheitswahlrecht nach britischem Vorbild eine Garantie, daß der Gegner mit 25 Prozent der Stimmen den Preis davontragen könnte. „Die Wahl“, sagt der Meinungsforscher Prannoy Roy mit Blick auf die vielfältigen Koalitionsmöglichkeiten nach dem Urnengang, „wird erst nach der Wahl stattfinden.“