Die Ruhe nach dem Katjuscha-Sturm

Nach dem Waffenstillstand mit der Hisbollah werden in Nordisrael die Trümmer zusammengefegt  ■ Aus Qiryat Shemona Georg Baltissen

Das Telefon klingelt. „Hier ist die Hotelrezeption. Es fallen wieder Katjuschas.“ Samstag morgen 3.50 Uhr. Noch zehn Minuten bis zum Beginn des Waffenstillstandes. Keine Tür knallt. Kein Getrappel auf dem Flur. Jeder weiß, dies ist der vorerst letzte Gruß von der Hisbollah. Die israelische Armee kann den Beschuß nicht erwidern, ohne den Waffenstillstand zu verletzen.

Die Jehuda-Ha-Levi-Straße in Qiryat Shemona zählt nicht zu den feinsten Adressen der Stadt. Die zweistöckigen Wohnblocks unweit vom Zentrum bieten der ärmeren Bevölkerung ein Zuhause. Oder besser boten: Denn sie sind verlassen. Weniger als fünf Minuten vor Beginn des Waffenstillstandes ist die Katjuscha hier eingeschlagen. Im Flachdach klafft ein etwa 80 Zentimeter großes Loch. Zwei Treppenstufen im Flur direkt unter der Einschlagstelle sind zerstört. Aus dem Verteilerkasten an der Wand sind die elektrischen Kabel herausgesprungen.

Nur zwei Wohnblocks von hier entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite nahmen palästinensische Guerillas 1974 mehrere Einwohner als Geiseln. Beim Sturm der israelischen Armee auf das Haus töteten die Terroristen 18 Geiseln, darunter Frauen und Kinder, erzählt Asher Ben Avidav. Qiryat Shemona wenige Kilometer entfernt von der libanesischen Grenze, lebt seit fast 30 Jahren mit den Aktivitäten der verschiedenen Guerillagruppen mit Geiselnahmen und Katjuscha-Beschuß.

Asher Ben Avidav, 46, ist marokkanischer Jude. Im Alter von fünf Jahren kam er mit seinen Eltern aus Tanger nach Qiryat Shemona. Mit seiner Frau und drei Kindern wohnt er in einem schmucken, zweistöckigen Reihenhaus in der Herzl-Straße. Auf der Fensterbank vor dem Wohnzimmer liegen ein paar metallene Katjuscha-Splitter. Das Haus verfügt über einen Schutzraum im ersten Stock. Er wehrt Splitter ab, einem direkten Treffer würden die Mauern jedoch nicht standhalten. Trotzdem ist die Familie in den 17 Kriegstagen nicht ein einziges Mal im Bunker gewesen. Und auch eine Evakuierung lehnt Asher Ben Avidav rundweg ab. „Das kommt für mich überhaupt nicht in Frage. Das ist unsere Heimat, hier leben wir“, sagt er. Seine Töchter hat er dennoch auf Urlaub nach Florida geschickt. Der älteste Sohn, Ran (17) ist geblieben. Er geht noch zum Gymnasium. Sein Vater ist Autoelektriker von Beruf und hat eine eigene Werkstatt. „Während der vergangenen 16 Tage habe ich höchstens halbtags gearbeitet“, sagt er. „Es kamen ja keine Kunden.“

Nach offiziellen Angaben sollen 4.000 der knapp 24.000 EinwohnerInnen in der Stadt ausgeharrt haben. Doch Ran schätzt die Zahl auf höchstens 800 bis 1.000. Doch einige haben es andernorts nicht lange ausgehalten. „Zwei meiner Schulkameraden“, erzählt Ran, „sind nach drei Tagen bei Verwandten wieder zurückgekommen. Es gibt nichts besseres als zu Hause, selbst unter Katjuschas.“ Die meisten Katjuschas, sagen Vater und Sohn übereinstimmend, sind in den Hügeln oberhalb der Stadt niedergegangen. Doch habe es diesmal mehr Treffer gegeben als bei früheren Angriffen.

Der Likud-Bürgermeister der Stadt, Prosper Azran, ein kleiner untersetzter Mann von überwältigender Leibesfülle, spricht von 1.500 beschädigten Häusern, zerborstene Fensterscheiben eingerechnet. Besonders erregte Gemüter schrauben die Zahl auch mal auf 2.000 hoch. Asher Ben Avidav bietet eine Sightseeing-Tour zu den Katjuscha-Einschlägen in der Stadt an, um die Schäden zu besichtigen.

In der Dan-Straße, der ersten Station der Rundfahrt, hat eine Rakete ein zehn Zentimeter tiefes Loch in den Asphalt gerissen. Glassplitter liegen noch herum. Im Putz des Hauses an der gegenüberliegenden Seite haben Raketensplitter unübersehbare Spuren hinterlassen. „Die Frau bog mit ihrem Auto gerade um die Ecke“, sagt Asher. „Sie wurde schwer verletzt.“ Der nächste Treffer hat das Dach eines Hauses abgedeckt, mitten in einem dichtbebauten Wohnviertel, und sich direkt hinter der Straße in den Sand gebohrt. Die dritte zu besichtigende Katjuscha steckt noch 30 Zentimeter tief im Boden eines Parkplatzes, nur zehn Meter von einem Kindergarten entfernt. An der Hinterseite eines Hauses hat eine weitere Katjuscha den Schutzraum glatt durchschlagen.

Eine Rakete explodierte direkt vor einem Bus

Ein paar Treffer mehr hat das Industriegebiet im Tal abgekriegt. Die Werkstatt von Ben Avidav ist jedoch unversehrt. Zerborstene Asphaltdecken, zersplitterte Fensterscheiben in den Gebäuden ringsum, an einem Fabriktor sind die Eisengitter verbogen, die Außenwand einer Metallfabrik hat einen Volltreffer nicht überstanden. Im „Blumenviertel“ der Stadt ist am vergangenen Donnerstag eine Katjuscha direkt vor einem unbesetzten Bus auf der Straße explodiert. „Als mir die Fensterscheibe um die Ohren flog, der Bus qualmte und nicht mehr weiter fuhr“, sagt die Fahrerin, „habe ich den Motor abgestellt und bin ausgestiegen.“

Im Ha'etzel-Viertel, einem blockähnlichen Wohnsilo hat eine Katjuscha das Hausdach gestreift der vordere Balkon ist abgerissen. Im Kindergarten des Viertels ist eine Rakete mitten aufs Dach gefallen. Der Kindergarten war, Gott sei Dank, geschlossen.

Der Likud-Bürgermeister von Metulla, Jossi Goldberg, der in der vierten Amtsperiode regiert und auch schon mal stolze hundert Prozent an Wählerstimmen einfuhr, schätzt den gesamten Sachschaden in der Region auf umgerechnet 50 Millionen Mark. Da die Schäden aus der Staatskasse beglichen werden, sind die Schätzungen der örtlichen Honoratioren mit Vorsicht zu genießen. Der Ausfall an Arbeitszeit, die Verluste der Händler und Geschäftsleute, die Kosten für die Evakuierung der Einwohner – all das sei dabei noch gar nicht mitgerechnet, sagt der Bürgermeister. Kein Wort darüber, daß die Schäden, die die israelische Armee im Libanon angerichtet hat, um ein Vielfaches höher sind.

Die Mittagssonne steht hoch über Qiryat Shemona, das am Fuß einer langgezogenen grünen Hügelkette liegt. Gegenüber das Jordantal und die Golanhöhen. Seit acht Stunden hält der Waffenstillstand. Aber die meisten EinwohnerInnen bleiben in ihren Bunkern. In den Straßen patrouillieren Polizei- und Militärfahrzeuge. Hin und wieder ein Privatwagen. Ein, zwei Familien mit ihren Kindern spielen im Hof vor ihren Wohnungen. Im Zentrum der Stadt führt ein alter Mann seinen Hund aus, geschützt von einem sieben Stockwerke hohen Gebäude, drei Etagen Geschäfte – Imbißbuden, Supermarkt, Bank, Anwaltskanzlei, Fahrschule, Apotheke – und was der Mensch dergleichen zum Leben braucht.

In der Imbißbude sind die Schränke von der Wand gerückt, im Halbkreis davor die Grill- und Kühlautomaten. Letztere noch gefüllt mit Bier, Cola und Limo. Die Kasse ist weit geöffnet. Geld ist hier nicht zu holen. Von Bratfett und Straßenstaub verdreckte rote und violette Plastikstühle stapeln sich in der Mitte des Raumes.

Auf der Promenade vor dem Einkaufs- und Geschäftszentrum liegt unter einer Holzbank ein Stapel nicht abgeholter Zeitungen. Sie datieren vom 12. April, dem dritten Tag des Krieges. Eine Ameisenstraße verläuft quer über die Promenade – direkt in eine Limonadenbude.

„Dieser Waffenstillstand wird nichts ändern“

In der Stadtverwaltung klingeln die Telefone heiß. Jeder möchte wissen, ob der Waffenstillstand hält oder ob man nicht lieber noch einen Tag mit der Rückkehr warten soll. Ein israelischer Offizier sagt: „Die Leute werden frühestens nach 24 Stunden die Schutzräume verlassen.“ Und zurückkehren würden die Evakuierten frühestens im Laufe der Woche.

Als Israels Ministerpräsident Schimon Peres und US-Außenminister Warren Christopher am Freitag nachmittag um 18 Uhr Ortszeit in Jerusalem vor die Presse treten und die Übereinkunft verkünden, sitzen die Bürgermeister von Metulla und Qiryat Shemona im Aufenthaltsraum des blaugestrichenen „Haus der Soldaten“ vor dem Fernseher und vor den Kameras. Nur eine halbe Stunde zuvor sind wieder zwei Katjuschas auf die Stadt gefallen. Am Morgen waren bei einem Angriff zwei Arbeiter im Industrieviertel durch Splitter leicht verletzt worden.

Die Bürgermeister verfolgen die Ansprache mit gespannter Aufmerksamkeit. Direkt nach der offiziellen Erklärung werden sie im ersten Programm des israelischen Fernsehens ihren Standpunkt darlegen. Im „Haus der Soldaten“, das von einer jüdischen Organisation in Frankreich finanziert wurde, sind an der Stirnwand zwei Plastiken aus grauen Steinplatten angebracht. Die obersten Steinplatten formen jeweils einen Panzer, deren Kanonenrohre aufeinander gerichtet sind. Davor sitzen die Bürgermeister und warten auf ihren TV-Einsatz. Nicht nur aus wahlkampftaktischen Gründen sind sie gegen den jetzigen Waffenstillstand. Prosper Arzan, Bürgermeister in Qiryat Shemona sagt: „Dieser Waffenstillstand wird nichts ändern. Die Hisbollah wird weiterhin unsere Soldaten in der Sicherheitszone angreifen. Die werden antworten. Und anschließend fliegen wieder die Katjuschas.“ Auf die Frage, was denn statt dessen geschehen solle, sagt er: „Der Kampf muß fortgesetzt werden, bis die Regierungen in Libanon und Syrien verstehen, was los ist. So wie wir das schon immer gemacht haben seit 1948.“ Und sein Kollege aus Metulla, Jossi Goldberg, meint, daß es vielleicht einige Monate ruhig bleibe, aber dann sei alles wieder wie zuvor.

Nach 17 Tagen Krieg also nichts erreicht? Resigniert sagt ein israelischer Journalist: „Wir haben den Krieg verloren, wieder einmal.“ Die Ben Avidav' haben eine optimistischere Bewertung. Sohn Ran meint: „Jetzt sind Frankreich und die USA bei der Überwachung des Waffenstillstandes involviert. Das ist neu. Und das macht Hoffnung.“