Verfassungsgericht öffnet Schlupfloch für Mafiosi

■ In Italien platzen Hunderte laufender Verfahren, auch der Andreotti-Prozeß. Das komplizierte Verfahrensrecht stellt der chronisch unterbesetzten Justiz ein Bein

Rom (taz) – Mit einer spektakulären Entscheidung hat Italiens Verfassungsgericht Hunderte laufender Verfahren zum Platzen gebracht. Bisher aufsehenerregendster Fall: Der Prozeß gegen den siebenmaligen Regierungschef Giulio Andreotti wegen Anstiftung zum Mord muß neu aufgerollt werden, weil die beiden Berufsrichter sofort ausgeschieden sind.

Der Entscheid des Verfassungsgerichts klingt zunächst harmlos: Kein Richter, der bereits an einem Verfahren gegen einen Angeklagten teilgenommen hat, darf über diesen auch in einem anderen Verfahren mitwirken. Das leuchtet ein und gilt auch in anderen Ländern. Nur: Italien hat sich Ende der 80er Jahre das komplizierteste Strafverfahrensrecht Europas verpaßt, wo in einem einzigen Prozeßzug bis zu einem halben Dutzend Gerichte entscheiden müssen. Nicht weniger als drei Instanzen sind schon an der Entscheidung zur Annahme der Anklage beteiligt. Freilassungsbegehren Inhaftierter werden von einem eigenen Gerichtshof entschieden, und all diese Präliminarien sind dann auch noch in höheren Instanzen anfechtbar.

So ein Fall war es, der jetzt das Justizsystem durcheinanderbringt: Ein Richter, der bereits über die Freilassung eines Inhaftierten entschieden hatte, wurde vom Angeklagten in der Hauptverhandlung mit Erfolg abgelehnt.

Der Fall Andreotti liegt ganz ähnlich. Zwar war es nicht Andreotti selbst, dem jetzt „verbrannte“ Richter gegenübersaßen. Aber über einen der mutmaßlichen Killer hatten der Vorsitzende und der Beisitzende Richter schon in Sachen Freilassung entschieden – sie mußten gehen. Formal ist das korrekt: Der Richter könnte sich bei der ersten Entscheidung ein Vorurteil gebildet haben. Doch bei dem erwähnten absoluten Personalnotstand wird sich derlei auch in Zukunft nur um den Preis weiterer Verzögerungen in der Rechtsprechung durchhalten lassen – schon heute aber dauert ein Strafprozeß im Durchschnitt an die zehn Jahre.

Profitieren werden von der Entscheidung nicht nur Mafiosi, die sowieso jede Woche einen Haftverschonungsantrag gestellt und damit nahezu alle Richter des zuständigen Jurisdiktionsdistrikts „verbrannt“ haben, sondern auch zahlreiche Angeklagte in Korruptionsverfahren. Nahezu all die von Mailänder Staatsanwälten verhafteten Manager, Unternehmer, Beamten hatten den ganzen Instanzenzug des „Freiheitstribunals“ ausgeschöpft, und in einer Anzahl von Fällen sind auch da in den Hauptverfahren Richter aus diesem Tribunal tätig.

In den Hintern beißen könnten sich bei dieser Sachlage die meisten angeklagten Politiker der Topklasse. Sie waren aufgrund ihrer parlamentarischen Immunität nicht verhaftet worden. Das hatten sie seinerzeit als Privileg angesehen, dafür aber eben – aus heutiger Sicht – keine Richter „verbrannt“ und können daher auch keine Neuverhandlung beantragen – was in ihren Fällen noch viel nachhaltigere Folgen hätte als bei den Mafiosi: Im Gegensatz zu letzteren, bei denen es allenfalls eine zeitweilige Freilassung wegen Überschreitung der Höchstdauer von U-Haft gibt, aber keine Verjährung, würden viele Korruptionsverfahren über die höchstzulässige Zeit von fünf Jahren verzögert werden und müßten dann eingestellt werden. Werner Raith