Die Macht der Stimmen

■ Marcel Beyer liest im Literaturhaus aus „Flughunde“

Wenn ein langjähriger Mitarbeiter der Musikzeitschrift Spex einen Roman veröffentlicht, dann darf man mit einer Ladung Popkultur rechnen. Doch Marcel Beyer, der heute im Literaturhaus liest, siedelt seinen zweiten Roman im letzten Weltkrieg an. Insofern ist Flughunde thematisch geschickt auf die Anforderungen des hiesigen Buchmarkts abgestimmt, der der nazionalsozialistischen Vergangenheit erhöhte Aufmerksamkeit schenkt. Der Coup gelang: Das Literarische Quartett sprach wohlwollend von dem knapp 300seitigen Roman.

Doch eigentlich ist der Nationalsozialismus kaum mehr als eine Folie, auf die Marcel Beyer etwas ganz anderes projiziert. Es geht ihm um eine Geschichte des Ohres. Ähnlich wie Patrick Süskind mit Das Parfum den Geruchssinn betont, setzt der 31jährige Autor aus Köln das Hören und sein Gegenüber, die Stimme, ein. Deshalb spielt Flughunde in der Blütezeit des Radios, und deshalb bedient sich Beyer der wohl berümtesten Stimme der deutschen Geschichte: Joseph Goebbels.

Dabei spricht Flughunde in zwei Stimmen. Der innere Monolog von Helga, der ältesten Goebbels-Tochter, wird via Wort- und Motivwiederholungen mit jenem des Tontechnikers Hermann Karnau verzahnt. Das am Anfang 8jährige Mädchen, dessen grausames Schicksal ja bekannt ist, findet in dem Stimmensammler eine Vertrauensperson. Doch Karnau ist nicht nur der liebe Onkel. Sein Interesse für das Gehör nimmt immer krudere Züge an. Er beginnt, mit Pinzette und Nadeln Tierschädel zu sezieren, um dem Geheimnis der Hörmuschel auf den Grund zu gehen. Die Kopfhaut der Versuchstiere schält er dabei mit dem Kartoffelschäler ab. So geraten die beiden inneren Monologe immer mehr in Konflikt und ziehen eine Kluft zwischen Oberfläche und Innereien.

Unter der Protektion Goebbels' wird Karnau zu einem Wissenschaftler ohne Gewissen. Als er bei der „Entwelschung“ im Elsaß versehentlich ein illegal aufgenommenes Tonband überspielt, zögert er nicht, jemanden zu denunzieren, um weiter hören zu dürfen. Geschickt wird so eine Verbindung von Horchen und Gehorchen aufgezeigt. Dennoch muß er an die Front, wo er mit dem neu entwickelten tragbaren Tonbandgerät den Feind abhört. Nebenbei kartographiert er noch die Frontabschnitte und stellt fest, daß die Vokale zunehmen, je näher er den Kampfhandlungen kommt.

Es sind solche Geräuschnotizen, die Flughunde zu einem fast schon klingenden Buch machen, das sich ganz über Stimmen und Geräusche, die am Rande der Wahrnehmung liegen, organisiert. Auch wenn Beyer manchmal einem Hang zur Schrillheit erliegt, wie bei jenem Batallion aus taubstummen Geheimnisträgern, gelingt ihm eine bisweilen groteske Schau auf ein in der Augenkultur und im Roman eher vernachlässigtes Organ.

Volker Marquardt

Heute, 20 Uhr, Literaturhaus