Wühltisch
: Hauch einer Illegitimen

■ Geruchssinn als Gesamtkunstwerk: Das neue Parfum aus dem Hause Chanel

Der Mensch ist ein olfaktorisches Wesen. Die Eskimos haben aus dieser Fähigkeit, sich per Geruchssinn zu orientieren, den Brauch entwickelt, junge Leute noch vor Eheschließung miteinander ins Bett gehen zu lassen. Nicht zur Erprobung der Sexualtauglichkeit, sondern zum gegenseitigen Beschnuppern. Auf diese Weise kann weitgehend vermieden werden, daß Ehepartner einander partout nicht riechen können. Die Kosmetikindustrie dämmt diese Praxis schon seit geraumer Zeit ein. Dafür wendet sie enorme Mittel auf.

Zwei bis drei Jahre gehen für Entwicklung, Marktstudien und Verbrauchertests vor der Marktpremiere eines neuen Produkts drauf. Als Faustregel der Branche gilt, daß 30 Prozent des erwarteten Nettoumsatzes für dergleichen aufgewendet werden soll. „Der Erfolg eines Duftes“, sagt Jacques Polge, Chanel-Parfumeur und Kreateur, „hängt vom überzeugenden Zusammenspiel von Marketing, von Verpackung, Namen und Parfummischung ab.“ Funktioniert ein Teilchen nicht, ist der Flop vorprogrammiert. Internationale Marktforschung erleichtert die Sache nicht. „Falls Chanel ein neues Parfum bringt“, meint Polge, „dann muß es für die Französin harmonisch sein, aber für die Deutsche Charakter haben. Die Italienerin erwartet ein Parfum mit Pfiff, und für die Amerikanerin soll es sexy duften.“

Nationale Geruchsmentalitäten sind nicht leicht zu bewältigen. Ein nicht minder schweres Problem macht die Namengebung, was die legendäre Coco Chanel seinerzeit für „Chanel No 5“ mit der ihr eigenen Kryptik für Bedeutendes löste. Wir schalten uns ein in einen Text aus der Chanel-Werbung. „Ein betörender Duftcocktail war geboren, dem Mademoiselle Chanel sofort verfiel. Im Kontrast zu seiner extravaganten Verführungskraft benannte sie ihn schlicht Nummer 5 – weil es sich dabei um den fünften Parfumvorschlag von Monsieur Beaux handelte.“

Wir bezweifeln daher, daß der Name „Allure“ für das jüngste Produkt aus dem Hause Chanel der Modeschöpferin gefallen hätte. Dabei hatten sich die Hausdichter allerhand Mühe gegeben, die Schöpfung intelligibel erscheinen zu lassen. „Das Wort ,Allure‘ wird mit zwei ,l' geschrieben wie ,elle‘ (sie), ,belle‘ (schön) und ,Mademoiselle‘. Auch ein bißchen Zahlenmystik kommt mit ins Spiel. Das Wort ,Allure‘ hat sechs Buchstaben wie der Name Chanel.“ Allüren, lesen wir im Fremdwörterduden weiter, bezeichnet die Gangart eines Pferdes und bedeutet im übertragenen Sinne (arrogantes) Auftreten. „Allure“, sagt Polge, den man die „Nase“ von Chanel nennt, „bedeutet für mich Anmut, Charakter, Intelligenz, Raffinesse, Klarheit.“

Chanel hat viel Zeit und Muße darauf verwandt, das neue Riechstück als Gesamtkunstwerk erscheinen zu lassen. Im Design des Flakons, so hören wir, sei der Geist der berühmten Modeschöpferin zu erkennen – eine klare, kantige, schlanke Kontur ist von der schlichten Form der No 5-Flasche inspiriert, also zeitlos modern. Übrigens hat Chanel sämtliche zur Parfumherstellung notwendigen Schritte – von der Auswahl der Rohstoffe bis zur Vorlage des versiegelten Flakons – in das Unternehmen integriert. Die Allure-Modells sind keine Schiffer-Campbells. Die Firma tut hier etwas für den Nachwuchs. Durchaus positiv – auch Karl Lagerfeld bleibt im Chanel-Umfeld der ewige Novize der großen kleinen Coco. Noch immer erzielen die Kreationen, die unter seinem Namen vertrieben werden, weit geringeren Umsatz als jene Lagerfeld-Arbeiten bei Chanel.

Das ganze Geheimnis findet sich im Logo, dem Spiel mit den Initialen. Der Buchstabe C mit dem spiegelverkehrten anderen. Coco Chanel hatte die Vorzeichen verändert. In ihrem Essay („Die Kreation einer Existenz“, Der Alltag, 2/91, Zürich 1991) über die französische Modeschöpferin weist die Politikwissenschaftlerin Karin Wieland darauf hin, daß die als Klosterschülerin in einem Heim aufgewachsene Gabrielle Chanel, später Coco genannt, mit ihren verblüffend schlichten Kostümen aus Schwarz und Weiß einen Teil ihrer Existenz gelöscht hatte. „Schwarz waren die Röcke und Schleier der Nonnen gewesen [...] Weiß waren die Wände, das Haarband, das Brusttuch und die Bluse.“ Indem Coco die elegante Welt in diese Farben kleidete, verwischte sie die Spuren zur Kokotte, als die sie zunächst Eingang in die Welt der Schönen und der Reichen gefunden hatte. „Im Jahre 1919 wachte ich auf und war berühmt“, lautete die Kurzfassung der gelernten Putzmacherin, die 1971 starb. Harry Nutt